Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
jeden seiner Schlupfwinkel fand man und sah, wie viele Schafe er gestohlen hatte. Aber fassen konnte man ihn nicht, weil er wie ein Rad davonflog. Ja, der Fjalla-Eyvindur. Jæja .«
Das war das erste Mal, seit sie auf Gunnarsstaðir weilte, dass Elías ihr eine Geschichte erzählte. Fast war sie gerührt. Und sie stellte sich vor, wie ein Mann radschlagenderweise über den braunen Bergrücken flüchtete. Was für eine seltsame Vorstellung. Radschlagen, Kinderturnen, um Verfolgern zu entkommen?
»Warum schlug er Rad?«
Elías sah sie an. Seine Augen waren etwas gerötet, aber sie lächelten. »Weil er nicht so schnell laufen konnte, wie er Rad schlug. Darum. Und ein Pferd besaß Eyvindur nicht. Die Pferde, die er fing, musste er aufessen, damit er nicht verhungerte.«
»Ah.« Seltsam, diese Isländer. Systirs Flasche war leer, und das Lamm legte sich satt und zufrieden neben das Stuhlbein, wo es augenblicklich einschlief.
»Gibt es denn heute noch Schafdiebe?«, knüpfte sie an seine Anfangsbemerkung an. Er schüttelte den Kopf. »Au ßer der Natur, die sich ihren Anteil holt – nein.«
»Und was machen wir mit diesen beiden?«, fragte sie und streichelte Broðirs Köpfchen, während er gierig an der Flache sog. »Gehen die auch ins Hochland?«
Elías schüttelte den Kopf. »Die heimalingar bleiben am Hof. Manchmal kommt im Hochland der Adler. Oder der Fuchs. Man braucht eine Mutter im ersten Jahr, zum Schutz. Die Natur holt sich immer ihren Anteil. Nächstes Jahr gehen sie auf den Berg. Nächstes Jahr...« Er starrte auf den Boden, als glaube er nicht so recht daran. Die heitere Stimmung war dahin. Sie fand ihn blass, und zum ersten Mal dachte sie daran, dass es für ihn, Elías Böðvarsson, vielleicht kein ›nächstes Jahr‹ geben könnte.
Es hupte wieder einmal draußen. Lies stürzte heraus – kein Jói.
Der Kaufmann war gekommen, mit einem Kofferraum voller Waren und sichtlich guter Laune.
»Na, Lämmerhirtin«, lachte er, so dass das Bartende zuckte, »na, hast dich vom Lammen erholt? Bald wird’s ruhiger auf dem Hof, wirst schon sehen...« Lies nickte unruhig und reckte den Kopf. Kein Mitfahrer stieg aus dem Auto. Sie schalt sich albern, sooo albern. Kindisch. Warum kam er bloß nicht? Warum zum Henker kam er nicht…?
»Hilf mir tragen«, unterbrach Ari ihre Gedanken. »Er hat viel Arbeit, weißt du?«
»Wer?« Mein Gott, was war sie geistesgegenwärtig, allein ihre Gesichtsfarbe spielte ihr einen gemeinen Streich, denn Ari grinste wissend. »Hmhm.«
Nebeneinander trugen sie die Kisten ins Haus und luden sie in der Küche ab.
»Kaffee?«
»Hmhm.« Ari ließ sich auf die Bank fallen. »Wo ist Elías?«
Lies zuckte mit den Schultern. »Irgendwo dort hinten. Zu den Klippen. Er geht oft dorthin. Zu diesem Stein, du weißt schon…«
»Hm. Jæja . Er ist oft dort, jæja .«
»Weißt du…« Sie überlegte. »Weißt du, wie Anna aussah?«
Ari trank seinen Kaffee laut schlürfend, und hinter der Tasse belauerte er sie. Dann setzte er die Tasse ab. »Lass die Toten ruhen, Lämmerhirtin. Er lässt sie auch ruhen.«
Nein, das tut er eben nicht, erwiderte sie stumm. Sie sind dauernd um ihn herum. Aber das hätte Ari nicht verstanden. Seine ärgerlichen Blicke machten ihr Angst, sie könne es sich mit ihm verscherzen. Um Himmels willen – mit Besuch, der nur alle paar Wochen kam, verscherzte man sich’s nicht... Sie hob die Kanne hoch. »Noch’nen Kaffee?«
»Hmhm.«
Draußen kreischten die Möwen über dem Hof, irgendwelche Schafe blökten ohne Grund. Die Sonne blinzelte schüchtern hinter wildgemusterten Wolken. In Island gab es ja so verrückte Wolkenformationen, den ganzen Tag konnte man Wolken angucken und entdeckte seltsame Tiere, Gespenster, Fabelwesen, die umeinander herumschwebten und sich ständig veränderten, je nachdem, wie der Wind gelaunt war... Lies erinnerte sich, dass die Wasserbottiche aufgefüllt werden mussten. Und die Wäsche auf der Leine – das schmutzige Bad, gekocht hatte sie auch noch nicht – das Lammen war vorüber, Arbeit lag trotzdem überall herum. Man konnte sie nur besser ignorieren, weil sie nicht blökte.
»Komm«, sagte Ari mit einem Mal und stand auf. »Komm, wir gehen ein Schneehuhn schießen.«
»Schneehuhn schießen? Jetzt??« Fassungslos starrte sie ihn an. »Das – das ist verboten!«
»Verboten schmeckt es noch viel besser.« Der Kaufmann schaute drein wie ein Kobold, und der Wind spielte neckisch mit seinem grauen Bart. »Komm, ich koch
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