Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
stellen konnte, beugte der alte Mann sich vor und packte das Lamm.
»Da«, sagte er undeutlich. »Mantel ausziehen.« Und deutete auf das tote Lamm in der Nachbarbox.
Lies traute ihren Ohren nicht. »WAS soll ich???«, fragte sie fassungslos.
Ungehalten bedeutete er ihr, das tote Tier hochzuheben. Mit seinem zitternden Finger beschrieb er Schnitte über dem weichen Fell, hinter dem Kopf, an den Beinen, unter dem Bauch. »Mantel ausziehen«, nuschelte er. »Die Mutter nimmt den Mantel an, dann bekommt es Milch.«
Er wollte, dass sie dem schwarzen Lamm das Fell des toten Lammes überzog.
Lies hielt sich die Hand vor den Mund, weil es sie würgte. Sie schüttelte den Kopf, wieder und wieder, und sah ihn an. Elías wartete einfach. Und weil sie keine Wahl hatte – und das Lämmchen auch nicht, tat sie, was Elías von ihr verlangte. Es war der schlimmste Moment ihres Lebens. Sie nahm das scharfe Messer aus seiner Hand, bat das tote Lamm um Verzeihung und setzte hinter dem Köpfchen an. Nie würde sie vergessen, wie sich das anfühlte. Die Haut war dicker als erwartet, ihre Hände zitterten, sie war ungeschickt, rutschte ab, und Tränen tropften auf das feuchte Fell, vermischten sich mit dem herauslaufenden Blut. Viel Blut war es nicht.
Schnitte nach unten und seitlich …
»Das ist eklig«, keuchte sie, »so eklig, mein Gott, wie kannst du das von mir verlangen, grässlicher alter Kerl, so eklig!« Doch wer sollte es sonst tun.
Schnitte um die Beine herum. Ein wenig Blut lief, färbte das unschuldig weiße Fell …
Dann sah sie hoch.
In Elías’ Gesicht zuckte es, und tiefe Trauer stand in seinen Augen zu lesen. Sie erinnerte sich an Jóis Ausspruch, dass Elías nicht gerne schlachtete. Ísak. Warum hatte Ísak sterben müssen. Warum kam ihr Ísak schon wieder in den Sinn, und warum ausgerechnet hier, wie makaber. Sie hielt inne und würgte. Warum das alles …
Elías griff in die Tasche und förderte einen Flachmann zutage. Wortlos reichte er ihr die Flasche, und wortlos goss sie sich das gebrannte Gift in den Mund, in der Hoffnung auf Mut durch Schmerz auf der Zunge. Die Hoffnung trog nicht – der brennivin schmeckte so furchtbar wie beim letzten Mal, ätzte die Schleimhäute an, verjagte aber zuverlässig die Übelkeit. Sie nahm einen zweiten, großen Schluck, dann noch einen größeren dritten, und gab ihm die fast leere Flasche ebenso wortlos zurück. Ihre Hand zitterte immer noch, doch zumindest die Verzweiflung über das, was sie jetzt hier tun musste, war betäubt worden. Elías gab ihr letzte Anweisungen, deutete ruhig und gefasst mit dem arthritisch gekrümmten Finger, was sie wo halten müsse und wie sie vorzugehen habe. Seine ruhige Freundlichkeit war ungewohnt und brachte sie zum Weinen.
Es war keine schwere Arbeit. Und es half ein wenig, sich vorzustellen, dass das weiße Lamm dem schwarzen seinen Mantel schenkte.
Es half nicht viel.
Es half nicht gegen das unbeschreiblich grausame Gefühl, einem Lebewesen die Haut vom Körper abzuziehen, und auch nicht gegen die Tränen, die ihr den Blick verschleierten, und es half nicht gegen die zitternden Finger, die den Kadaver kaum zu halten vermochten. Wo sie trotzdem die Kraft hernahm, an der Haut zu ziehen, wusste sie nicht. Das Abziehen selber verursachte kein Blut, es machte nur ein ganz feines, seltsames Geräusch, als die Fleischfasern die Haut freigaben. Wie unzählige Finger hielten sie die Haut, wurden länger – und ließen los und sanken zurück an den Körper, während das Hautstück in Lies’ Händen immer länger wurde. Als der Mantel fertig abgezogen war, ließ sie die Hände in den Schoß sinken. Ein bisschen Blut, Schmiere, und ein lebloser, magerer Körper mit wolligem Köpfchen lag vor ihr, der seinen Mantel als letztes Geschenk hergegeben hatte …
Sie wischte sich die Finger sauber, und Elías reichte ihr das schwach zappelnde, schwarze Lamm. Sie klemmte es sich zwischen die Knie und zog die Haut über sein sauberes Fell und band es fest mit den Schnürchen, die Elías ihr gab. Ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt – würde das Schaf sich täuschen lassen? Oder wäre die ganze furchtbare Arbeit umsonst gewesen? Ein letztes Mal mit Geburtsüberresten über Fell und Kopf gewischt, und der Betrug war fertig. Dann schickte sie das Lämmchen zum Schaf. Elías grunzte. Lies legte die Hände in den Schoß, hundemüde und so schmutzig wie noch nie in ihrem Leben – glaubte sie jedenfalls …
Das Schaf drehte sich um. Es
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