Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
wie an der Stelle, wo vor vielen Jahren Palli und Anna verunglückt waren. Hoch sprühte die Gischt, einige Tropfen erreichten Lies’ Gesicht und neckten die Haut mit dem eiskalten Gebirgswasser, und die Sonne zauberte tatsächlich einen kleinen Regenbogen in das herabfallende Wasser.
»Der Regenbogen – siehst du ihn, Lies?«
Das Tosen übertönte jedes andere Geräusch. Da war nur noch der Lärm des Wassers, das Sprudeln der Gischt und Jói dicht hinter ihr, Jóis Hände an ihren Schultern, nicht mehr einfach nur zupackend, sondern verwirrend anders und sanft. Wassertropfen, die durch ihr Gesicht rannen. Und der Regenbogen... Island, das ihr zunickte. Willkommen.
Quietschend setzte die Gondel sich wieder in Bewegung. Sie schwankte, als ob sie sich wehrte, über dem Fluss hängen bleiben wollte, weil es keinen dramatischeren und schöneren Ort auf Erden gab und weil alles noch ehrlicher aussah, wenn es von schwankendem Boden aus betrachtet wurde. Lies hielt sich am Rand der Gondel fest und reckte ihr Gesicht der Sonne entgegen. Die entschädigte sie jetzt für viele, viele Tage graues Regenwetter und endloses Warten auf den Sommer – siehste, geht doch – und sie ließ den Wind mit ihren Haaren spielen. Ein entfernter Gedanke an Sonnenbrand, weil es auf ihrer Nase zwickte …
Sonnenbrand. Was für ein alberner Gedanke.
Die Klippe kam näher, hinter ihr keuchte Jói inzwischen vor Anstrengung und fluchte, dass die Seile unbedingt mal wieder geölt werden müssten und wie verdammt gefährlich Island doch manchmal war. Lies aber wünschte sich trotz der schwindelerregenden Höhe, dass diese Luftfahrt andauern möge. Der Wind, die Sonne, Gletscherwasser auf den Lippen, Jói...
Tat sie leider nicht. Jedes Entzücken hat ein Ende und jede Fahrt ihr Ziel. Und so kam die Klippe näher und näher, und Lies erkannte, dass diese Klippe es war, die die wilde Schlucht eigentlich so bedrohlich machte. Sie war die Grenze von der Bodenwelt zur Luftwelt, sie konnte Sicherheit geben, aber auch Träume vom Fliegen nehmen. So wie einst bei Palli und Anna.
Lies starrte beharrlich runter in die Tiefe, um so lange wie möglich die Wassermassen der Jökulsá erleben zu können, ihr Tosen, ihre unbändige Wildheit. Es war nur noch ein kurzes Stück. Dann stieß die Gondel an. Das Seil über ihnen zitterte heulend, die Gondel schwankte wie zum Abschied. Unter ihnen fiel die Klippe viele Meter steil herab, und ein paar aufgescheuchte Vögel flatterten kreischend aus den Felsspalten hoch. Das verunglückte Paar verblasste.
Jói befestigte das Gefährt in der Halterung und half Lies beim Aussteigen. Dankbar sah sie ihn an.
»Na«, sagte er und holte Luft, »jetzt bist du richtig in Island angekommen.« Dann erst ließ er ihre Hand los.
Der Satz ging ihr nicht aus dem Kopf, obwohl sie nicht mehr mit der Gondel fuhren. Jeden Tag, wenn sie über die Brücke ging, um den Männern das Essen zu bringen, musste sie daran denken. Stimmte das?
War sie wirklich in Island angekommen?
Schwungvoll drehte sie sich um und betrachtete den Hof Gunnarsstaðir. Heruntergekommene Fassade, rostiges Dach. Schrott neben der Scheune. Flatternde Wäsche auf der Leine, dumpf murmelndes Tal. Ein bisschen war es ihr Zuhause geworden.
Aber angekommen??
Irgendwer hatte ein Einsehen und hielt tatsächlich die ganze Zeit den Regen zurück – es wurde eine phänomenale Heuernte. Nach fleißigem Wenden und Schwadern lagen bald unzählige der hellgrünen Ballen drüben auf der Wiese, und Ari begann, sie mit einer am Traktor befestigten Packzange, die aussah wie eine überdimensionale Würstchenzange, erst auf den Anhänger zu laden und die Ballen dann in Elías’ Scheune zu transportieren. Nun wusste Lies auch, wer da so akkurat die Heuballen stapeln konnte. Was nicht in die Scheune ging, wurde draußen gegen die Wand gelehnt, Lies vermutete, dass der Kaufmann irgendwann im Winter ein zweites Mal kommen würde, um Nachschub nach drinnen zu räumen. Lächelnd sah sie ihm bei der wichtigen Arbeit zu. Elías stand neben ihr, auf seinen Stock gestützt, und machte ein nachdenkliches Gesicht. Ein leiser, unguter Geruch umwehte ihn. Sie vermutete sein krankes Bein. Sie hatte es lange nicht mehr gesehen, er verweigerte ja weiterhin jede Hilfe.
»Bist du nicht zufrieden?«, fragte Lies.
»Eine gute Ernte, Mädchen«, nickte er. »Doch für wen? Für wen, Mädchen...« Und er humpelte davon und zog das Bein wieder stärker nach.
Für wen die ganze
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