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Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)

Titel: Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Trodler
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es kam keines. Nur der Wind säuselte um sie herum. Er verwirbelte sanft ihr Haar, verwöhnte sie mit dem Duft von anwelkendem Gras und strich über ihre Wange. Genieß den Sommer .
    Lies sah in ihren Gedanken nur sich auf Gunnarsstaðir, auf diesem Stein hockend, das flauschige Fell des Spitzes zwischen ihren Fingern, den Wind in den Haaren. Sonst niemanden.
    Als sie den Korb wieder zusammengepackt hatte, stand Jói auf.
    »Komm, ich zeig dir, wie die Leute früher über die Schlucht gegangen sind«, sagte er und hob den Korb hoch. Die Schlucht war breit, und Lies war vorhin eigentlich froh gewesen, dass sie dank der großen Holzbrücke nicht in die Tiefe hatte schauen müssen. Die Geschichte von Palli und Anna ging ihr nicht aus dem Sinn. Sie gehörte nach Gunnarsstaðir, so wie dieser Fluss, der alles mit sich riss. Alles, außer den Geschichten.
    »Komm«, zwinkerte Jói.
    »Neeeee, das kann ich nicht!«, stieß sie denn auch hervor, als sie die freischwebende Gondel über der tosenden Jökulsá erblickte, die Jói mit dem Seilzug herbeizog. »Beim besten Willen nicht, da fahr mal alleine!«
    »Damit sind die Leute früher auf die andere Seite gereist«, grinste Jói, »als es die Brücke noch nicht gab. Die Brücke hat übrigens Elías noch mit seinem Bruder gebaut, damals. Mit Palli. Der Palli.« Nachdenklich drehte er den Kopf nach der alten Brücke, die so furchtbar wackelte, wenn der Traktor drüberfuhr. »Davor reisten sie in der Gondel. Nur mit der Sense bewaffnet und einem Stück Trockenfleisch für die Pause. Und dann haben sie Heu gemacht, haben sich in der Quelle dort hinten gewaschen und sind abends wieder zurückgeschaukelt. So war das damals. Komm, das musst du gesehen haben. Das ist Island.« Und seine Augen leuchteten so, dass Lies ohne weiter nachzudenken in die Gondel einstieg und keinen Gedanken mehr verschwendete an Angst oder Sorge, denn wenn sie abstürzte, tat sie das ja mit Jói zusammen …
    Der Gedanke war höchst albern – o mein Gott, wie albern -, und sie wurde darüber knallrot. Zum Glück sah er das nicht, denn er hantierte am Oberlauf der Gondel und drehte ihr den Rücken zu.
    »Okay?«, hörte sie ihn. Sie nickte verlegen, das konnte er zwar nicht sehen, schien es aber bemerkt zu haben. Die Gondel setzte sich schaukelnd in Bewegung, es quietschte und schnarrte über ihnen, die Stahltrossen ächzten und beschwerten sich, dass sie nach so vielen Jahren wieder arbeiten mussten. Lies presste den Korb gegen ihre Brust. Es war, als ginge der Boden unter ihren Füßen weg, als bräche das Holz unter ihr – was, wenn das geschah? War sie verrückt, sich in so eine morsche Schaukel zu begeben, bloß weil dieser Typ so schöne Augen hatte?? ›Lies Odenthal‹, schalt sie sich, ›wo bist du nur gelandet? Kochst Essen für einen alten stinkenden Kerl und begibst dich in Lebensgefahr für einen isländischblauen Strahleblick!‹<
    Nun ja, Strahleblick – erst mal aber war es ziemlich unromantisch. Jói musste heftig arbeiten, mit zwei Mann Besatzung hatte die Gondel ein ordentliches Gewicht, und als sie in der Mitte der Schlucht angekommen waren, hielt er schnaufend inne. Ari und der Alte auf der anderen Seite lächelten und machten anzügliche Bemerkungen, die freundlicherweise von der Jökulsá verschluckt wurden, und zeigten mit den Fingern auf die beiden.
    »Na? Wie findest du das?« Es war sehr eng. Als er sich zu ihr umdrehte, streifte sein fettiger Wollpulli ihren Handrücken.
    Lies schluckte. »Hmhm.«
    »Das ist Island.« Jói lächelte. »Deswegen ist man hier. Schau mal runter.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht.«
    »Schau mal runter, versuch’s. Ich halt dich fest.« Das tat er dann gleich richtig, er fasste sie nämlich bei den Schultern und schob sich hinter sie. »Siehst du, so kannst du nicht runterfallen. Ich halte dich fest, Lies.«
    Die eine Hand wanderte vorne um sie herum zur anderen Schulter, mit ein bisschen mehr Mut hätte Lies ihr Kinn auf seinem Unterarm aufstützen können. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben. Nicht zu zittern, nicht nach ihm zu greifen, nicht zu heulen, sich nicht auf ihn zu stürzen. Sie war glücklich als Single. Glücklich und zufrieden. Ihr Herz schlug wild, aber nicht wegen der Gondel. Verflucht. Sie zwang sich stattdessen, aus der Gondel in die Schlucht zu gucken. Und da sah sie, was er mit ›Das ist Island‹ meinte.
    Die Jökulsá tobte über einen dicken Fels. Ihre Wassermassen brachen sich weiter oben an dem Stein, genau

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