Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
auch’ne Belohnung, wenn wir wiederkommen...« Was gab man einem Pferd als Belohnung? Verstand es sie überhaupt? Gleichmütig stand Sörli da und wartete auf das, was kommen würde. Der Spitz hockte vor der Haustür. Bis zur Weide hörte sie ihn winseln.
Lies versuchte sich daran zu erinnern, was Jói damals gesagt hatte. Gerade hinsetzen. Beine in die Bügel. Knie an den Sattel. Zügel in die Hände nehmen. Reite einfach los! – Schau genau da hin, wohin du reiten willst – in die Richtung wird auch das Pferd gehen.
Und genau so war es. Der Steigbügel war so widerspenstig wie Elías’ Trittleiter in der Speisekammer, die sie irgendwann bezwungen hatte. Leichter Schwindel erfasste sie, sie hatte vergessen, wie sehr es da oben schwankte und wie hoch sie saß, obgleich das Pferd vom Boden aus so klein wirkte. Die dichte Mähne tanzte ihr bei jedem Schritt entgegen. Sörli suchte sich den besten Weg zwischen Felsbrocken und Erdklumpen und schien zu spüren, wo Schmelzwasser die Erde unterspült hatte und wo man Gefahr lief, mit einem falschen Tritt ins Erdreich einzubrechen. Er trug seine Reiterin wie eine kostbare Fracht, und nach einigen hundert Metern hatte sie sich tatsächlich an das schwankende Gefühl gewöhnt. Vielleicht zahlte sich ja das jahrelange Judotraining doch aus, wenn auch anders, als sie je gedacht hatte... Sie drehte sich vorsichtig und schaute zurück. Gunnarsstaðir lag in der Senke, und aus dem Schuppen qualmte es weiter. Sie hatte sich nicht getraut, irgendwelche Löschversuche zu tätigen, und hoffte jetzt einfach, dass das Feuer nicht auf das Wohnhaus übergreifen würde. Oder der Schuppen in die Luft flog. Der Spitz kläffte ihr hinterher, doch er blieb vor der Haustür sitzen. Für nichts in der Welt würde er seinen Herrn verlassen.
Das weiße Pferd schnaubte. Schneller?
»Wie denn?«, murmelte Lies. »Bin froh, dass ich gut sitze.« Schneller ist besser.
Was hatte Jói damals gesagt? › Lass das Pferd machen.‹ - ›Stell Dir vor, du versinkst in seinem Rücken. Mach dich schwer. Und dann schnalze mit der Zunge.‹
Ach Jói. Was gäbe sie darum, ihn neben sich zu haben – wie wäre das dann alles leichter hier. Sie schlug den Blick nieder und ließ sich in den Sattel sinken. War nicht eh alles egal? Hauptsache, sie fiel nicht runter, auf den scharfen, spitzen Schotter. Im Moment fühlte es sich nicht nach Runterfallen an, sie saß gut und sicher und kam sich vor wie auf Thomas’ Motorrad. Wenn man am Gashebel drückte, zog es an... Der Kopf des Pferdes erhob sich, unter ihrem Hintern veränderte sich etwas. Spannung kam in das Tier, es schien zu warten, nur weil sie gedacht hatte... Es vibrierte, wartete – wartete …
Komm schon.
Und Lies öffnete leicht den Mund und schnalzte.
Der Kopf kam noch ein Stück weiter hoch, und dann blies ihr der Wind ins Gesicht, denn das Pferd legte an Tempo zu, und genau wie bei Thomas’ Motorrad drückte es sie zurück, so dass sie um ihr Gleichgewicht kämpfen musste. Erschreckt packte sie in die Mähne – es rumpelte unter ihr, sie wurde im Sattel hin und her geworfen, doch es war immer die gleiche Bewegung – hin, her – hin, her – hin, her, ganz gleichmäßig und ruhig, und immer schneller, bis ihr Becken ruhiger wurde, Lies ihre Angst verlor und sich so ins Pferd sinken ließ, wie Jói es ihr damals gesagt hatte...
Das weiße Pferd schnaubte froh. Um sie herum flog die Landschaft dahin – gerochen, gesehen und schon Vergangenheit. Gerochen, gesehen, weg. Endlose Wiesen, Geröllbrocken aus der Urzeit, Sümpfe, stachelige Büsche. Gerochen, gesehen, weg. In der Ferne das Tosen des Gletscherflusses. Nie zuvor war sie bis hier gekommen, wozu auch. Die Berge rechts und links gehörten zu dem Gebirgszug um Gunnarsstaðir herum, doch gewandert war sie höchstens nach Westen, auf den großen Gletscher zu. Die Berge lächelten – schön, dass du mal schauen kommst. Hier und da tanzten Sonnenflecken auf den Hängen, auch die Sonne war neugierig geworden und schob sich an manchen Stellen durch die dichten Wolken, die von Regen und Unwetter sprachen. Lies setzte sich ein wenig bequemer im Sattel zurecht. Ihr Becken kreiste auf wundersame Weise von alleine im Gleichklang mit den Bewegungen des Pferdes. Vertrauenerweckend dicht und wollig lag die Mähne unter ihren Händen. Die Zügel hatte sie halb vergessen, doch das weiße Pferd brauchte keine Zügel, denn es wusste, wo es hinlaufen sollte, und es trug seinen unerfahrenen Reiter mit
Weitere Kostenlose Bücher