Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
Achtsamkeit, als wüsste es ganz genau, dass er aus der puren Not heraus aufgestiegen war und es unter normalen Umständen niemals getan hätte.
Der Wind legte zu. Sörlis Ohren spitzten sich, hoch peitschte die Mähne, und das Gefühl der Bewegung unter ihr verstärkte sich. Schneller, schneller... Und währenddessen begann trotz der Furcht um Elías ihr Herz zu hüpfen. War es Freude? Konnte man hier Freude empfinden? Man konnte. Trotz der düsteren Wolken, die sich am Horizont türmten. Es roch nach Regen. Lies wischte sich ein paar verlorene Tropfen von der Stirn. Ein Greifvogel kreiste hoch über ihnen, klagende Wildgänse begleiteten ihren Ritt. Sie führten eine Art Zug nach Höskuldstaðir an, als habe es sich bis in die Lüfte herumgesprochen, dass der alte Elías Böðvarsson Hilfe brauchte. Sörli lief schneller – weil Lies es wollte, weil es so schön war und weil es die Hilfe näher brachte. Fast schämte sie sich für den Genuss, den sie empfand... Als hätte das Pferd ihre Gedanken gehört, legte es noch mal an Tempo zu, obwohl der Wind immer stärker wehte und es ordentlich dagegen anschnaufte. Eine Welle ging durch das ganze Pferd, Lies wurde von ihr mitgenommen und sank in seinen Rücken, genau wie Jói es gesagt hatte. Nicht denken, nur sitzen, den Rest macht Sörli schon...
Sörli machte den Rest.
Er war ein gutes Pferd, um das so mancher Elías Böðvarsson schon beneidet hatte, eins von den Pferden, die der Himmel einem nur einmal im Leben schenkt. › Die Welt verlieh mir Reichtum nie / kein kostbar Ding wert Móaling ‹, ging es Lies durch den Kopf, als sie daran dachte, wie Elías sein Pferd an jenem Abend der Heuernte angesehen hatte. Ein gutes Pferd. Als es die Straße erreichte, war es schweißnass von der übergroßen Anstrengung und zitterte an den Flanken. Ängstlich beugte Lies sich nach vorne – man hörte immer, dass Pferde auf der Rennbahn zusammenbrachen... was dann?? Hilfe. Von ferne drang das Rauschen des Meeres an ihr Ohr. Das Meer!? Wo hatte es sie hier hingebracht? Sie versuchte, sich im Kopf die Karte von Island in Erinnerung zu rufen. Wo hatte das weiße Pferd sie hingebracht?
Die Beine schmerzten von der ungewohnten Haltung, der Hintern, der Rücken, alles tat weh, vielleicht weil sie es nicht wagte, sich zu bewegen. Auf dem Asphalt musste das Pferd langsam gehen. Kurze, abgehackte Schritte warfen sie im Sattel herum, die harte Bewegung verunsicherte Lies. Sörlis Kopf sank herab, müde, erschöpft, der ganze Pferdeleib pumpte wie wild …
»Wir schaffen das, mein Freund«, flüsterte sie, mehr zu sich selber, denn das nächste Problem stand am Straßenrand auf der Kreuzung: zwei Schilder. Eins nach rechts, eins nach links, mit Namen, die sie nie gehört hatte... Wohin? Sörli nahm ihr die Entscheidung ab, denn er marschierte einfach nach links, immer auf dem Randstreifen voran, voran, wohin auch immer, immer voran …
Autos rauschten an ihnen vorbei. Wenn Lies mit den Armen wedelte, damit sie anhielten, zuckten die muffigen Gesichter nicht mal mit der Wimper, die anderen winkten fröhlich zurück oder betätigten die Lichthupe. »Verflucht!«, brüllte sie, »versteht mich denn keiner?! Scheiß Island!« Ein Typ im LKW hupte, und Sörli machte einen Satz zur Seite, so dass Lies sich an der Mähne festhalten musste, um nicht aus dem Sattel zu fallen. Und dann hielt ein Auto an, gleich neben ihr, die Autotür klappte auf.
»Das is’ doch Elías Böðvarssons Hengst, der da. Wie kommst’ an d’s Pferd?« Ein finsterer Mann stieg aus und fasste sogleich in den Zügel. »Wie kommst’ an d’s Pferd?«
»Bist du von Höskuldstaðir?«, stotterte Lies und wäre am liebsten abgestiegen, befürchtete aber, dass ihre Beine ihr den Dienst versagen würden, weil sie Angst hatte, müde war, soooo müde …
»Wer will ds’n wiss’n?« Die schwarzen Augen glichen Schlitzen, sein grimmiges Misstrauen erschlug sie fast …
»Elías – Elías – es brennt auf Gunnarsstaðir – er hat mich geschickt – er hat...« Wo waren bloß all die isländischen Worte, die sie glaubte zu können? Alle weg – weg …
»Brennt? Gunnarsstaðir? Wer b’st’n du?!« Der Mann wurde immer größer und einschüchternder, und Sörli schnaubte leise.
Lies holte tief Luft. Er musste sie jetzt anhören. »Ich arbeite für ihn. Ich arbeite für Elías. Frag Jói. Jói Magnússon. Elías ist verletzt – es brennt...« Sie schloss die Augen. Jói. Warum war der nicht hier? Warum hatte
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