Der letzte lange Sommer: Island-Roman (German Edition)
sie nicht ihn getroffen? »Ich brauche Hilfe.« Der Mann sah sie lange an. Dann packte er ihren Arm. »Komm«, und zog sie vom Pferd herunter. Augenblicke später fand Lies sich in dem Auto wieder, einem durchdringend nach altem Hund und feuchter Wolle stinkendem, unglaublich schmutzigem Geländewagen, wo Unrat, Papierverpackungen, Essensreste und Getränkedosen bis zum Knöchel im Fußraum lagerten. Das Radio spielte knarzend isländischen Pop, in der Getränkehalterung schwappte alter Kaffee mit öligen Schlieren. Die Türgriffe waren verschmiert, und durch die vom Spritzwasser milchigen Scheiben konnte man nicht viel sehen – für den Mann von Höskuldstaðir indes schien es zu reichen, und er kannte seine Straße ja auch. Der Kies knirschte, als der Wagen losfuhr, und Sörli lief am langen Zügel nebenher, erst im Schritt, dann schneller, über die Landstraße nach Norden.
Lies war zu müde, um sich zu wundern, dass Isländer ihre Pferde am Auto mitnahmen – hier war so vieles anders, und was hätten sie mit dem Pferd auch sonst machen sollen. Island war wild und offenbar der Ort, wo die Improvisation geboren und aufgewachsen war. Hörte sich makaber an, aber so war die Lage.
Ihr Auto wurde nicht überholt. Hinter ihnen bildete sich eine Schlange von Fahrzeugen, vielleicht wussten die auch alle, dass der Geländewagen nach einem Kilometer links in einen Feldweg abbiegen würde. Hinter der Kurve kam tatsächlich zwischen zwei zerklüfteten Felsen der Hof in Sicht. Lies atmete erleichtert auf.
Von forschem Pedaltritt gebremst, hielt der Wagen an. Ein Hund sprang kläffend an Lies hoch. Sörli bekam einen runden Hals und rollte mit den Augen, als ein zweiter haariger Kläffer auf ihn zusprang.
»Auður! Auður, wo’s’s Telefon!«, brüllte der Mann und knallte die Autotür zu. »Mein Handy’s kaputt«, warf er über die Schulter Lies als Erklärung hin. »Scheiß-Handy, fällt einfach aus’nanner. Was macht man hier ohne Handy – Auðuhur!« Wie ein Riese stapfte er vorwärts und ins Haus, wo Türen quietschten, noch ein Hund bellte und ein Kleinkind schrie. Eine keifende Frauenstimme drang aus dem hinteren Teil des Hauses – Familienstreit.
Lies sah sich um. Das weiße Pferd hatte sich auf ein Stück Grün gestürzt. Es fraß, als hätte es seit Tagen nichts mehr bekommen, und trat dabei achtlos in die Zügel... Erschreckt schlich Lies sich an und hakte sie aus, bevor etwas passierte. In einer alten Tonne fand sie Regenwasser, sie schöpfte einen Eimer heraus, und Sörli trank durstig.
»Wir hamn’n Arzt g’rufen. Is’ eh inner Nähe, kommt vorbei un’ nimmt uns mit.« Der Mann kam aus dem Haus und stellte sich neben sie. »Auður fragt, ob Kaffee.«
Lies nickte. Der Mann vertauschte Sörlis Zaum gegen ein Halfter, zerrte den Sattel herunter und ließ ihn einfach weiter auf der Wiese laufen. »Gut’s Pferd. Sehr gut’s Pferd. Elías wollte ihn nie verkauf’n.« Anerkennend sah er dem Schimmel hinterher, der sich in eine Schlammkuhle warf und ausgiebig wälzte. »Gut’s Pferd...«
Auður hatte Kuchen gebacken. Gestern vielleicht oder vorgestern, der Marmorkuchen schmeckte schon ein wenig trocken, doch das spülte Lies mit dem starken Kaffee herunter, sie hatte nach dem scharfen Ritt Hunger wie ein Bär. Als Auður sah, dass es ihr mundete, holte sie noch mehr Kuchen aus der Vorratskammer. Es gab welchen mit Buttercreme, mit Rhabarbarmarmelade und einen Teller mit riesigen Schokoladenplätzchen, dann war der Küchentisch vollgestellt. Ein Kleinkind heulte im Nebenzimmer vor sich hin, niemand kümmerte sich drum.
»Iss«, sagte sie und setzte sich erwartungsvoll an den Tisch. Sie hatte schlecht gefärbte Haare und ein Lächeln wie eine amerikanische Filmschauspielerin. Der BH unter der Bluse verbarg nur notdürftig ihren großen Busen, Teile davon quollen hervor und bewegten sich jedes Mal, wenn sie Lies ein Stück Kuchen abteilte. Ihr Mann, den sie Tilli nannte, hockte in der Ecke und rührte schweigend in der Kaffeetasse, ohne Zucker hineingetan zu haben. Lies war unruhig. Warum ging es nicht vorwärts – warum fuhren sie nicht los, worauf warteten sie? Und überhaupt war es sehr seltsam, bei wildfremden Menschen, die sie nicht mal nach ihrem Namen gefragt hatten, in der Küche zu sitzen, Kuchen zu essen – und weder zu wissen, wo man war, noch, was nun passierte. Die Leute indes fanden es nicht seltsam. »Noch Kuchen?«, fragte Auður und zauberte aus dem Kühlschrank einen Sahnesprüher
Weitere Kostenlose Bücher