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Der letzte Massai

Der letzte Massai

Titel: Der letzte Massai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Coates
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zu entspannen und ließ sich von der Wirkung des Tabaks an einen Ort der Ruhe tragen – ein Zustand, den er in Gegenwart seiner Landsleute selten erreichte.
    Der Baum oberhalb von Delameres Ranchhaus war ein altes, knorriges Ding. Die Massai nannten die afrikanische Feige
Oreteti
-Baum und verehrten ihn wegen seiner Langlebigkeit und Zähigkeit – Eigenschaften, nach denen sie in ihrem eigenen Leben strebten. Sie gedachten des
Oreteti
in Gebeten und Segenswünschen. Dieser Baum hier auf dem Hügel wurde von den Kriegern besonders geschätzt, da er sicherlich die glorreichen Tage miterlebt hatte, als die
Moran
weder ihrer Familie noch den Ältesten zur Rechenschaft verpflichtet waren, sondern niemandem außer ihren Kriegsbrüdern. Von den Wüsten nördlich des Mount Kenya bis zu den Aberdares, von den Aberdares bis zum Kilimandscharo hatten die Massai-Krieger einst in ihrem riesigen Territorium gewütet. Ihre Überlegenheit war so groß, dass es kein anderer Stamm wagte, Rinder zu halten, aus Angst, damit die Massai anzulocken. Sie versteckten sogar ihre Schafe und Ziegen in den Tälern und Wäldern. Das waren die Zeiten, in denen auch Colchester gern ein
Morani
gewesen wäre.
    Mantira und Ole Sadera näherten sich. Delamere und Colchester erhoben sich, um ihnen gegenüberzutreten, und Colchester begrüßte sie auf förmliche Weise. Die beiden
Olaiguenani
erwiderten die Begrüßung, und dann begann Ole Sadera mit monotoner Stimme zu sprechen, so dass es beinahe einem Singsang gleichkam. Er redete von Brüdern und Verantwortung, von Respekt und bindenden Gelöbnissen. Colchester verstand ihn mühelos, aber Delameres Maa reichte nicht aus, um der feierlichen Rede zu folgen.
    Ein Begleiter holte ein Messer hervor, und die vier Männer fuhren einer nach dem anderen mit der Klinge über ihre Unterarme. Aus den vier dünnen Linien begann Blut zu rinnen.
    Ole Sadera und Mantira wurde jeweils ein Stück Ochsenfleisch gereicht, und sie strichen mit dem Fleisch über die Unterarme der Weißen.
    Ole Sadera sagte: »Künftig fließt unser Blut in euren Adern und euer Blut in den unseren. Unsere Kinder werden euer Blut erben wie eure Kinder das unsere. Auf diese Weise erweisen wir dem Land, dem Besitz, den Überzeugungen und dem Leben des jeweils anderen gegenseitigen Respekt.«
    Die beiden
Olaiguenani
aßen Stücke des blutigen Fleisches, und anschließend reichten sie das Fleisch den beiden Weißen, die die Prozedur nachahmten, während Colchester die Worte auf Maa wiederholte.
    Dann war es geschafft, und das Fleischfestmahl begann erst richtig.
    Delamere kehrte zu seinem Platz unter dem Feigenbaum zurück. Colchester rang mit sich, ob er den
Moran
Gesellschaft leisten oder der lästigen Pflicht nachkommen sollte, an Delameres Seite zurückzukehren. Er setzte sich nur widerwillig neben ihn.
    »Nun, Gilbert«, sagte Delamere und betrachtete eingehend sein Stück Fleisch, »das war keine schlechte Arbeit, nicht wahr?« Er drehte das Fleisch hin und her, bis er eine geeignete Stelle gefunden hatte, um einen zaghaften Bissen zu nehmen.
    Colchester biss beherzt in sein eigenes Stück und sagte nichts.
    »Ich nehme an, dass uns unsere kleine Vorstellung eine Menge Rinderdiebstähle ersparen wird, was?«
    Colchester machte sich wieder nicht die Mühe, zu antworten. Wenn er es getan hätte, hätte seine Entgegnung wohl gelautet:
Ja, die Blutsbrüderschaft wird die Zahl der Rinderdiebstähle vermutlich senken.
Vielleicht hätte er sogar seine Entdeckung verraten, weshalb die Massai der Zeremonie zugestimmt hatten und welche Erwartungen sie an die neue Verwandtschaft knüpften. Als er hörte, dass die Massai in Bezug auf Delamere den Titel
Olaiguenani
verwendeten, begriff er, dass sie glaubten, Delamere sei ein Sprecher des weißen Stammes, ein einflussreiches Mitglied der Verwaltungsbehörde.
    Colchester war sich bewusst, dass die Zeremonie für die Massai eine tiefgreifende Veränderung in ihrer Beziehung zu den beiden Weißen bedeutete. Am wichtigsten aber war, dass sowohl Ole Sadera wie auch Mantira – die beiden mächtigsten Anführer in Entorror, dem nördlichen Reservat –, nun erwarteten, dass Delamere und er in der Wahrung ihrer besten Interessen handelten, wie es wahre Brüder tun würden, und dass Delamere überdies seinen politischen Einfluss nutzen würde, um dafür zu sorgen, dass diese Interessen auch berücksichtigt wurden.
    Delamere war bei den häufig erbitterten Auseinandersetzungen mit Edouard und seiner

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