Der letzte Paladin: Historischer Roman (German Edition)
auch Roland nicht ernennen. Und was die Kampfkraft angeht, ist Remi besser als Otker und Beggo, das weiß jeder.«
Turpin begann zu lächeln. »Piligrim de Vienne, du alter Fuchs«, sagte er. »Und ich meine das durchaus als Kompliment. Ziehst dich aus unserem erlauchten Kreis zurück und schickst uns gleichzeitig deinen jüngsten Sohn, damit du trotzdem noch den Fuß in der Tür hast.«
»Mir geht es um Roland«, sagte Piligrim. »Du weißt, dass ich seit damals eine besondere Beziehung zu ihm und seiner Familie habe. Und, mein lieber Freund, mir geht es auch um mich. Ich spüre die Veränderungen seit Langem in den Knochen, und heute sind sie offenbar geworden. Das ist nicht mehr das Frankenreich, das wir mit aufgebaut haben, Turpin. Karl ist nicht mehr der, der er war. Statt abends am Feuer bei den Geschichtenerzählern sitzt er jetzt in der Kapelle und betet. Und statt uns um Rat zu fragen, bespricht er sich mit Priestern und handelt nach deren Gutdünken. Kannst du dich erinnern, dass jemals ein Frankenkönig nur einen seiner Paladine in seine Pläne eingeweiht und die anderen völlig im Dunkeln gelassen hätte? Und dass er auch mit diesem einen Paladin ein doppeltes Spiel getrieben hätte? Die Idee der Paladine ist Vergangenheit, Turpin. Wenn wir uns gegen Karls Beschlüsse auflehnen, brechen wir unseren Schwur und sind es nicht mehr wert, Paladine genannt zu werden; wenn wir ihnen folgen, folgen wir in Wahrheit Styrmis Intrigen und sind es ebenfalls nicht mehr wert, Paladine zu sein.«
»Ohne dich wird es nicht mehr dasselbe sein«, sagte Turpin, der einen Kloß in der Kehle spürte und voller Entsetzen erkannte, dass jedes Wort des alten Kriegers wahr war.
»Es ist schon lange nicht mehr dasselbe, Turpin. Wir haben es nur bis jetzt nicht wahrhaben wollen.«
In der großen Halle stand Karl vor seinem Thron und musterte ihn nachdenklich. Styrmi hatte sich ebenfalls zurückgezogen, und abgesehen von dem einen oder anderen Mitglied des Gesindes, das durch den Saal huschte, war Karl allein. Langsam stieg er Schritt für die Schritt die sechs Stufen hinauf. Auch deren Anzahl war ein Symbol. Die Sechs war die Zahl des Kreises. Zeichnete man ein Sechseck in einen Kreis, war die Länge jeder Sechseckkante so lang wie der Kreisradius. Sie war die Zahl, die das Schicksalsrad darstellte. Um einen Kreis herum ließen sich genau sechs kleinere, gleich große Kreise zeichnen. Und sie war die Zahl, auf die die ersten drei Zahlen eins, zwei und drei hinführten, egal, ob man sie addierte oder multiplizierte. Die Sechs war das, worauf alles zulief und was nie endete, so wie der Kreis nie endete. Die Sechs war die Zahl des Königtums – ein Reich ohne Ende.
Karls Vorväter hatten die Vorarbeit geleistet. Aber richtig begonnen hatte das Frankenreich mit ihm. Er war der Anfang. Und seine Aufgabe war es, dafür zu sorgen, dass es kein Ende nahm. Und deshalb hatte er sich mit der einzigen Macht auf der Welt verbündet, die ebenfalls für sich in Anspruch nahm, bis in alle Ewigkeit Gültigkeit zu besitzen – dem Papsttum.
Er setzte sich und hob erst jetzt seinen Blick. Eine hochgewachsene, schlanke Gestalt in einem bodenlangen Gewand stand vor dem Thron. Sie musste lautlos hereingekommen sein. Karl atmete tief durch.
»Ich nehme an, du hast alles gehört«, sagte er.
»Du hast mir nicht verboten, vor dem Eingang zu stehen und zu lauschen.«
»Weil ich dachte, dass die natürliche Würde der Schwester des Königs dich daran hindern würde.«
»Die Würde der Schwester eines Königs hält sich in Grenzen, wenn der König Karl heißt und seine Familie nur für seine Zwecke missbraucht.«
Karl winkte ärgerlich ab. »Bertha«, knurrte er. »Das ist lächerlich, und du weißt es so gut wie ich. Ich habe nie …«
»Du hast mir den Mann genommen, Karl«, sagte Bertha de Laon.
»Es tut mir immer noch sehr leid um Milan, aber Krieger fallen im Kampf«, sagte Karl. »Ich habe dir einen neuen Mann gegeben, einen, der zu den höchsten Würdenträgern meines Reichs gehört.«
»Milan war Ganelons Bruder! Du hast nur den Traditionen gehorcht und zugesehen, dass alles in der Familie bleibt!«
Die Verachtung, die Bertha ihrem ehemaligen Schwager und neuen Ehemann Ganelon de Ponthieu nach über zehn Ehejahren immer noch entgegenbrachte, verblüffte und ärgerte Karl. Manchmal fragte er sich, ob der Umstand, dass Bertha und Ganelon keine eigenen Kinder hatten, nicht einfach daran lag, dass Bertha ihren Gatten nie in ihr Bett
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