Der letzte Polizist: Roman (German Edition)

ein Feigling bin.«
    Bei Wilentz ist schwer zu sagen, ob er scherzt, aber ich glaube nicht. Jedenfalls wende ich meine Aufmerksamkeit wieder den Geschehnissen auf dem Monitor zu, über den lange Datenkolonnen marschieren.
    »Tja, mein Freund«, sagt Officer Wilentz, während er seinen Schokoriegel auspackt. »Da haben Sie einen gottverdammten Pfadfinder.«
    »Wie bitte?«
    Mr. J.T . Toussaint hat noch nie ein Verbrechen begangen, wie sich herausstellt. Zumindest ist er nie bei einem erwischt worden.
    Er ist noch nie von der Polizei von Concord festgenommen worden, weder vor noch nach Maia, auch nicht von der Staatspolizei von New Hampshire oder von irgendeinem anderen Amtsträger des Staates, des Countys oder der Gemeinde. Er hat noch nie im Gefängnis gesessen, hat keine Akte beim FBI oder beim Justizministerium. Nichts auf internationaler Ebene, nichts vom Militär. Anscheinend hat er einmal mit einem Motorrad in einer Kleinstadt namens Waterville Valley, oben in den White Mountains, falsch geparkt und dafür einen Strafzettel bekommen, den er unverzüglich bezahlt hat.
    »Also nichts?«, sage ich, und Wilentz nickt.
    »Nichts. Außer er hat jemanden in Louisiana abgeknallt. New Orleans ist nicht mehr am Netz.« Wilentz steht auf, streckt sich und vergrößert den Haufen auf dem Schreibtisch mit der zerknüllten Verpackung des Schokoriegels. »Bin am Überlegen, ob ich selbst da hingehe. Wilde Zeiten da unten. Wie ich höre, laufen da alle möglichen Sex-Geschichten.«
    Mit einem einseitigen Ausdruck von J.T. Toussaints Vorstrafenregister – oder dessen Fehlen – gehe ich wieder hinauf. Wenn er einer der Typen ist, die herumlaufen und Leute umbringen und sie in den Toiletten von Fast-Food-Läden aufknüpfen, hat er sich erst vor Kurzem entschieden, so jemand zu werden.
    Oben an meinem Schreibtisch hänge ich mich wieder ans Telefon, versuche es noch mal bei Sophia Littlejohn und werde erneut mit den unverbindlich-schwungvollen Tönen der Frau an der Anmeldung der Geburtshilfe beglückt. Nein, Ms. Littlejohn ist nicht da; nein, sie weiß nicht, wo sie ist; nein, sie weiß nicht, wann sie zurückkommt.
    »Könnten Sie ihr ausrichten, sie möge Detective Palace im Concord PD anrufen?«, sage ich und füge aus einem spontanen Impuls heraus hinzu: »Sagen Sie ihr, ich bin ihr Freund. Sagen Sie ihr, ich will ihr helfen.«
    Die Frau hält einen Moment lang inne und sagt dann: »Ooookay«, wobei sie die erste Silbe dehnt, als wüsste sie nicht recht, wovon ich spreche. Ich kann es ihr nicht verübeln, denn ich weiß selbst nicht so ganz, wovon ich spreche. Ich werfe das Papiertaschentuch, das ich mir an den Kopf gehalten habe, in den Müll. Unruhig und unzufrieden starre ich J.T . Toussaints saubere Akte an, denke an das ganze Haus, den Hund, das Dach, die Rasenfläche. Und noch etwas beschäftigt mich: Ich erinnere mich ziemlich gut daran, dass ich meine Schneeketten gestern Morgen sorgfältig befestigt und nachgezogen habe, wie ich es gewohnheitsmäßig einmal pro Woche mache.
    »Hey, Palace, komm mal rüber und schau dir das an.«
    Es ist Andreas, an seinem Computer. »Sehen Sie sich was im Internet an?«
    »Nein«, sagt er. »Das ist auf meiner Festplatte. Ich hab’s runtergeladen, als wir das letzte Mal online waren.«
    »Oh«, sage ich. »Tja, also …« Aber es ist zu spät, ich bin schon zu seinem Schreibtisch rübergegangen und stehe nun neben ihm, und er packt meinen Ellbogen mit einer Hand und zeigt mit der anderen auf den Bildschirm.
    »Schau«, sagt Detective Andreas und atmet schnell. »Schau dir das mit mir zusammen an.«
    »Kommen Sie schon, Andreas. Ich arbeite an einem Fall.«
    »Ich weiß, aber schau dir das an, Hank.«
    »Hab ich schon gesehen.«
    Jeder hat es gesehen. Ein paar Tage nach Tolkin, nach der CBS -Sondersendung, der endgültigen Entscheidung, hat das Jet Propulsion Laboratory der NASA ein kurzes Video herausgegeben, um der Öffentlichkeit die Geschehnisse zu verdeutlichen. Es ist eine simple Java-Animation, in der primitive verpixelte Avatare der relevanten Himmelskörper ihre Bahnen um die Sonne ziehen: Erde, Venus, Mars, und natürlich der Star der Show, der gute alte 2011 GV 1. Die Planeten und der berüchtigte kleine Planetoid, alle kreisen sie in ihren verschiedenen Geschwindigkeiten auf ihren verschiedenen elliptischen Bahnen um die Sonne, schieben sich Bild für Bild vorwärts, wobei jeder Moment auf dem Bildschirm zwei Wochen Echtzeit darstellt.
    »Warte einen Moment.« Andreas