Der letzte Polizist: Roman (German Edition)
lockert seinen Griff, lässt aber nicht los, beugt sich an seinem Schreibtisch sogar noch weiter vor. Seine Wangen sind gerötet. Er starrt mit großen Augen und ehrfurchtsvoller Miene auf den Bildschirm wie ein Kind auf die Glaswand des Aquariums.
Ich stehe hinter ihm, schaue zu, ohne es eigentlich zu wollen, beobachte, wie Maia ihren bösartigen Weg um die Sonne beschreibt. Das Video versetzt einen auf unheimliche Weise in Trance, wie ein Kunstfilm oder eine Installation in einer Galerie: bunte Farben, repetitive Bewegung, simple Handlung, unwiderstehlich. In den ferneren Bereichen seiner Umlaufbahn bewegt sich 2011 GV 1 langsam und methodisch, er tuckert geradezu am Himmel dahin, viel langsamer auf seiner Bahn als die Erde auf ihrer. Aber dann, in den letzten paar Sekunden, nimmt Maia Tempo auf, wie der Sekundenzeiger einer Uhr, der plötzlich von vier auf sechs schießt. In gebührendem Gehorsam gegenüber dem zweiten Kepler’schen Gesetz verschlingt der Asteroid in den letzten zwei Monaten die letzten paar Millionen Weltraumkilometer, holt die ahnungslose Erde ein, und dann … bamm!
Beim letzten Bild – Datum: 3 Oktober, der Tag des Einschlags – friert das Video ein. Bamm! Bei diesem Anblick dreht sich mir unwillkürlich der Magen um, und ich wende mich ab.
»Großartig«, sage ich leise. »Danke für die Vorführung.« Wie ich dem Kerl gesagt hatte, ich habe es schon gesehen.
»Moment, Moment.«
Andreas zieht den Rollbalken auf ein paar Sekunden vor dem Einschlag zurück, Moment Nummer 2:39.14, und lässt das Video dann erneut ablaufen; die Planeten wandern ruckartig zwei Bilder vorwärts, dann hält er es wieder an. »Da? Siehst du’s?«
»Was soll ich sehen?«
Er fährt es erneut zurück, spielt es noch mal ab. Ich denke an Peter Zell, denke daran, wie er sich das angeschaut hat – bestimmt hat er sich das Video angeschaut, wahrscheinlich Dutzende Male, und vielleicht hat er es auseinandergenommen, Bild für Bild, so wie Andreas jetzt. Der Detective lässt meinen Arm los und schiebt das Gesicht weit nach vorn, bis seine Nase fast den kalten Kunststoff des Monitors berührt.
»Genau hier: Der Asteroid taumelt ein kleines Stück nach links. Wenn du Borstner gelesen hast – hast du Borstner gelesen?«
»Nein.«
»Oh, Hank.« Er schaut sich zu mir um, als wäre ich der Verrückte, dann wendet er sich wieder dem Bildschirm zu. »Er ist ein Blogger, oder er war einer. Jetzt hat er diesen Newsletter. Ein Freund von mir in Phoenix hat mich letzte Nacht angerufen und mir alles erzählt, er hat gesagt, ich soll mir das Video noch mal ansehen und es genau …« Er klickt auf Pause, 2:39.14. »Genau hier anhalten. Schau. Okay? Siehst du?« Er spielt es noch einmal ab, hält es wieder an, spielt es ein weiteres Mal ab. »Worauf Borstner hier hinweist, wenn man dieses Video vergleicht, meine ich.«
»Andreas.«
»Wenn man es mit anderen Projektionen der Asteroidenbahn vergleicht, gibt es hier Anomalien.«
»Detective Andreas, niemand hat den Film manipuliert.«
»Nein, nein. Nicht den Film. Natürlich hat niemand den Film manipuliert.« Er verdreht wieder den Hals, sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an. Mir steigt eine leichte Fahne von irgendetwas in seinem Atem in die Nase, Wodka vielleicht, und ich trete zurück. »Nicht den Film, Palace, sondern die Ephemeriden .«
»Andreas.« Ich kämpfe jetzt gegen den starken Drang an, seinen Computer einfach aus der Wand zu reißen und durch den Raum zu schleudern.
Ich muss einen Mordfall lösen, Herrgott noch mal. Ein Mann ist tot.
»Schau … da … schau«, sagt er. »Siehst du, wo Maia fast von der Bahn abweicht, aber dann gewissermaßen zurückschwenkt? Im Vergleich zu Apophis oder 1979 XB . Oder … weißt du, Borstners Theorie lautet, dass man einen Fehler gemacht hat, einen grundlegenden frühen Fehler bei der … Berechnung, verstehst du, der Mathematik dieses Dings. Und zwar schon bei der Entdeckung selbst, denn so was hatte es bis dahin noch nie gegeben. Eine Umlaufbahn von fünfundsiebzig Jahren, das ist der komplette Wahnsinn, stimmt’s?« Er redet immer schneller, die Worte schießen wie ein Sturzbach aus ihm heraus und purzeln übereinander. »Borstner hat versucht, mit dem JPL Kontakt aufzunehmen, er hat sich ans Verteidigungsministerium gewandt und ihnen zu erklären versucht, was, was … du verstehst schon … und sie haben ihn einfach abblitzen lassen. Man hat ihn ignoriert, Palace. Komplett ignoriert!«
»Detective Andreas«,
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