Der letzte Polizist: Roman (German Edition)
Barhocker auf, stecke mir einen Finger ins Ohr, um den Fernseher und die ätzende Musik auszublenden, greife nach einem blauen Buch. »Was ist mit den Akten?«
»Ach ja, die Akten. Der furchtbar hilfsbereite Mr. Gompers sagt im Wesentlichen, an dieser Front stecken wir bis zum Hals in den metaphorischen Stoffwechselprodukten.«
»Hm.«
»Er hat den Aktenschrank nur kurz in Augenschein genommen und gesagt, dass vielleicht drei Dutzend Akten fehlen, aber er kann mir nicht sagen, was es für Ansprüche waren, wer sie bearbeitet hat oder irgendwas. Die Computer-Akten haben sie im Januar aufgegeben, und von den Papierakten gibt es keine Sicherheitskopien.«
»Pech«, wiederhole ich, hole einen Kuli heraus und schreibe, ich schreibe alles auf.
»Morgen versuche ich, ein paar Freunde und Angehörige dieser Eddes ausfindig zu machen, um ihnen die traurige Nachricht zu überbringen. Vielleicht wissen die ja irgendwas.«
»Das übernehme ich«, sage ich.
»Wirklich?«
»Klar.«
»Bist du sicher?«
»Ich kümmere mich drum.«
Ich lege auf, packe meine Notizbücher ein, lasse sie eines nach dem anderen in die Tasche meines Blazers gleiten. Die Frage ist nach wie vor, warum. Warum tut jemand so etwas? Warum jetzt? Ein Mord, kaltblütig und kalkuliert. Zu welchem Zweck? Worin besteht der Vorteil? Zwei Hocker weiter gibt der Mann mit dem Schnurrbart wieder sein erregtes Hrmpf von sich, weil die Werbesendung von einer Nachrichtenmeldung unterbrochen worden ist, Frauen in Abayas , die irgendwo voller Panik über einen staubigen Markt laufen.
Er dreht sich mit traurigem Blick zu mir um, schüttelt den Kopf, als wollte er sagen, Mannomann, hm? , und ich merke, dass er im Begriff ist, mich anzusprechen, eine Art zwischenmenschlichen Kontakt herzustellen, aber ich habe keine Zeit, ich kann jetzt nicht. Ich muss arbeiten.
Zu Hause schäle ich mich aus den Klamotten, die ich den ganzen Tag getragen habe – in der Leichenhalle, bei der Nationalgarde, am Tatort –, bleibe im Schlafzimmer stehen und schaue mich um.
Letzte Nacht bin ich nach Mitternacht in diesem Zimmer aufgewacht, in derselben Dunkelheit, und Naomi stand im Türrahmen und zog sich im Mondschein das rote Kleid über den Kopf.
Ich laufe hin und her und denke nach.
Sie hat sich das Kleid angezogen, sich auf die Matratze gesetzt und angefangen zu reden – mir etwas zu sagen –, aber dann hat sie innegehalten. » Vergiss es .«
Ich gehe in meinem Schlafzimmer langsam im Kreis. Houdini steht unsicher und beunruhigt in der Tür.
Naomi wollte mir etwas sagen, aber dann hat sie innegehalten und stattdessen gesagt: Ganz egal, was noch passiert, es war echt und gut und richtig. Und sie würde es nicht vergessen, ganz egal, wie es endet.
Ich marschiere im Kreis, schnippe mit den Fingern, kaue auf den Enden meines Schnurrbarts herum. Echt und gut und richtig, ganz egal, wie es endet , das hat sie gesagt, aber sie wollte eigentlich etwas anderes sagen .
In meinem unruhigen Traum wird die Kugel, die Naomis Schädel durchbohrt hat, zu einem Ball aus Feuer und Stein, der die zerbrechliche Erdkruste durchschlägt, Gräben in die Landschaft meißelt, Sedimentgestein und Erdreich wegsprengt, sich in den Meeresboden gräbt und Gischtfontänen aus kochendem Meerwasser nach oben schickt. Tiefer und tiefer dringt er ein, pflügt vorwärts, setzt die aufgespeicherte kinetische Energie frei, wie eine Kugel durch ein Gehirn schießt, durch warme Klumpen der grauen Substanz fetzt, Nerven durchtrennt, Schwärze erzeugt und Gedanken und Leben mit sich hinabreißt.
Als ich aufwache, erfüllt das tote gelbe Licht der Sonne mein Schlafzimmer, und in meinem Kopf hat sich die nächste Phase der Ermittlung angekündigt.
Eine winzige Kleinigkeit, eine kleine Lüge, der ich nachgehen kann.
2
Es ist nicht mein Mord, es ist Culversons Mord, aber ich bin schon wieder unterwegs in die Innenstadt, zurück zum West Water Building, wie ein Tier, das einen Akt der Gewalt miterlebt hat und nun rastlos immer wieder zum Schauplatz des Geschehens zurückkehrt, von dem eine schreckliche Faszination ausgeht. Auf dem Eagle Square marschiert irgendein Knallkopf im Kreis, großer Parka, Fellmütze und eine altmodische Spruchtafel vor dem Bauch – HALTEN DIE UNS FÜR BLÖD ?, in großen, comicartigen Blasenbuchstaben –, und er läutet eine Glocke, wie ein Weihnachtsmann von der Heilsarmee. »Hey«, ruft er, »wisst ihr, was die Stunde geschlagen hat?« Ich blicke zu Boden, ignoriere ihn und stoße
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