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Der letzte Regent: Roman (German Edition)

Der letzte Regent: Roman (German Edition)

Titel: Der letzte Regent: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Hatten forensische Spezialisten alle Trümmerstücke, die großen wie die kleinen, in der Kanzlei des Regenten untersucht und analysiert und alle Informationen sichergestellt, die sich aus dem Chaos gewinnen ließen, das der Fast-Kettenbrand hinterlassen hatte?
    Während ihm diese Fragen durch den Kopf gingen, betrachtete Xavius, was er nicht betrachten wollte: die kläglichen Überbleibsel eines Großen, der sechshundert Jahre die Geschicke des Enduriums bestimmt und die Menschheit vor den Ayunn geschützt hatte, in einem weißen, von dunklem Blut befleckten Zeremonienbecken auf einem mit violettem Samt bedeckten Tisch, berührt von den zitternden Händen der jungen Balsamiererin, der es nicht länger gelang, ihre Tränen zurückzuhalten. Xavius hätte am liebsten die Augen geschlossen und an nichts gedacht, Kopf, Herz und Seele geleert, für einen Moment oder auch zwei, aber der Chronist hielt seine Lider oben und die Aufmerksamkeit wach. In aller Deutlichkeit sah er die Tränen, eingefangen vom Okularzoom, wie sie silbernen Perlen gleich über glatte Wangen rollten und fielen, sich im Becken mit dem Blut des endgültig Toten vereinten. Hier weint nicht nur eine junge Vivus, dachte Xavius. Hier weinen Welten, das ganze Endurium.
    Und dann hasste sich Xavius plötzlich wegen eines egoistischen Gedankens, der ihm glitschig wie ein Wurm durch das vor Schock halb gelähmte Bewusstsein kroch.
    Ein schneller Aufstieg, und ein ebenso schneller Fall, dachte er, im Okularzoom noch immer die Tränen der jungen Balsamiererin, deren lebende Hände über den geborstenen Kopf des endgültig Toten strichen. Der Regent hat mich zu seinem persönlichen Chronisten gemacht, zum Ersten im Endurium, und nie gab es eine größere Ehre für meine Familie. Aber ich konnte nicht einmal einen Bericht in Seinem Namen ins Mesh schicken.
    Doch dann hörte er das Flüstern seines Assistenten, der bereits an einem Nachruf arbeitete, und besann sich auf die Chronistenpflichten. Alle mussten von diesem ungeheuerlichen Frevel erfahren! Die Schuldigen bloßstellen und anprangern, Ruhm und Verdienste des ermordeten Regenten in allen Einzelheiten schildern … Das war jetzt seine Aufgabe.
    Der Wurm des Egoismus kroch erneut durch Xavius’ Kopf. Es werden meine Worte sein, die man während der nächsten Jahrhunderte – vielleicht für immer – mit Avedo M Avedis dem Großen in Verbindung bringen wird. Meine Worte werden seine Herrlichkeit beschreiben und von Vivus-Kindern gesungen, wenn sie die Regenten des Enduriums preisen.
    Und er dachte: Vielleicht kann ich Ihn zur Erde begleiten, wo man Ihn beisetzen wird. Vielleicht kann ich bei der Gelegenheit die Stille Stadt sehen.
    »Chronist …«
    Xavis Xavius blinzelte und begegnete dem scharfen Blick von Quintus Quiron, der jetzt nicht nur Vorsitzender des Gremiums war, sondern auch geschäftsführender Regent des Enduriums. Bald kann er zum ersten Mal seiner eigentlichen Aufgabe gerecht werden und das Konklave leiten, das einen neuen Regenten wählen wird, dachte Xavius, während ihn der kalte Blick sezierte. Selbst die Balsamiererin hielt kurz inne und sah ihn an.
    »Ja«, sagte er und glaubte zu wissen, was man von ihm erwartete. Der Chronass hatte den Schock – wenn es für ihn überhaupt einen gab – bereits überwunden und begann mit dem Text für ein Loblied auf den Regenten. »Ja, ich werde Ihn auf angemessene Weise würdigen«, sagte er ernst. »Es werden die ergreifendsten Worte sein, die je über einen Regenten …«
    »Nein«, zischte Quiron, und für einen Moment schienen die Narben im Gesicht und am Hals zu glühen. »Sie werden schweigen, Chronist. Sie werden nichts verlauten lassen.«
    Das war ein zweiter, kleinerer Schock, nach dem ersten großen, und für einige Sekunden verschlug es Xavis die Sprache.
    »Aber es ist meine Pflicht, Bericht zu erstatten und …«
    »Ihre Pflicht, Chronist, besteht jetzt darin, uns dabei zu helfen, die Sicherheit des Enduriums zu gewährleisten«, sagte Quiron laut und deutlich. »Wir könnten am Anfang einer dritten Inkursion stehen. Vom Tod des Großen darf noch nichts bekannt werden. Das Endurium muss stark und stabil bleiben; die Toten wie die Lebenden müssen darauf vertrauen können, dass die Weisheit eines erfahrenen Regenten sie durch die Krise führen wird.«
    Xavius vernahm die Worte und verstand ihre Botschaft, aber sein erfahrenes Chronistenohr hörte noch mehr in ihnen, obwohl sie von einem Mortus gesprochen waren. Selbst der Chronass

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