Der letzte Regent: Roman (German Edition)
das stimmte. Der erste Schritt, der kontrollierte Tod – der Übergang – lag hinter ihr, und der zweite, vielleicht ebenso große, erfolgte bald.
»Du sagst nicht, wie es dir geht.«
Über dem Oval aus Synthium Neun wanden sich bunte Linien wie Schlangen durch ein gewölbtes Displayfeld, insgesamt sechsundzwanzig. Einige von ihnen bekamen kleine Ausbuchtungen, andere Zacken. Vielleicht, dachte Tabatha, hört mich nicht nur der Schläfer.
Gut oder schlecht, spielt es eine Rolle? Ich liege seit zweitausend Jahren hier, ohne mich zu bewegen.
Zweitausend Jahre, dachte Tabatha und versuchte, sich so viel Zeit vorzustellen. Und dann dachte sie: Ich bin tot und unsterblich. Jahrhunderte liegen vor mir. Trotz der emotionalen Dämpfung durch den Tod zitterte bei diesem Gedanken Aufregung in ihr.
»Deine Gedanken sind frei«, krächzte sie.
Manchmal werden mir meine Gedanken genommen. Manchmal vergesse ich etwas, und wenn das geschieht, verliere ich einen Teil von mir. Ich sterbe seit zweitausend Jahren, kleines Stück für kleines Stück.
»Wir alle sterben irgendwann, auch die Toten.«
Das klingt weise, aber es ist eine banale Wahrheit.
Tabatha fühlte, wie sich in ihrer grauen Stirn Falten bildeten.
Wir fühlen die Ayunn, sagte der Schläfer. Es waren kalte Worte, die dennoch in Tabatha brannten. Die Sechsundzwanzig und ich. Und auch die Phalanx. Wir spüren sie durch die Translokatoren, weit dort draußen, und doch gefährlich nahe. Sie werden wieder angreifen. Sie werden versuchen, hierher zurückzukehren.
Tabatha atmete tief durch. Es war eine alte Angewohnheit, denn eigentlich brauchte sie nicht mehr zu atmen, zumindest nicht mehr so oft wie als Vivus. »Meinst du die dritte Inkursion?«
Ja. Die Ayunn werden einen neuen Vorstoß unternehmen, den größten von allen.
»Die Faust des Regenten wird bereit sein.«
Die Faust des Regenten ist stark, räumte der Schläfer ein. Aber ist sie auch stark genug? Ich …
Tabatha wartete. Stille herrschte im Saal der Sechsundzwanzig, aber mit ihren neuen, noch nicht ganz entfalteten Sinnen glaubte sie, das leise Flüstern der Energie in den Maschinen um sie herum zu hören.
Sie beobachtete den Mann im Sarkophag, der sich nur dann bewegte, wenn das Gel mit neuen Nährstoffen angereichert oder ganz ersetzt wurde. Seit zwei Jahrtausenden waren die Augen geschlossen. Mit ihnen sah der Mann nichts, aber dafür sah er mit den Sensoren der Stillen Stadt, mit Tausenden von künstlichen Augen.
Eindringlinge nähern sich, sagte er plötzlich. Die Sicherheitszone ist verletzt. Die Phalanx registriert Karsow-Emissionen.
»Ayunn?«, stieß Tabatha erschrocken hervor, und ihr Blick ging zum nächsten Fenster. Regentropfen klatschten dagegen.
Nein, erwiderte der Schläfer. Menschen. Splitter-Menschen.
Der Auftrag
5
Was geschah mit den Toten, wenn sie starben?
Mit diesem geschah nicht mehr viel, das stand fest: der Kopf halb abgerissen, im offenen Hals halb verbrannte Nervenstränge und Knochensplitter der Wirbelsäule, das Gesicht zerfetzt, die Augen geplatzt, der Schädel geborsten. Vom Rest des Körpers, vom Schlüsselbein abwärts, hatten nur einige Teile geborgen werden können; die anderen waren in der mehr als zweitausend Grad heißen Glut einer beginnenden nuklearen Reaktion verbrannt.
»Wahrscheinlich hat sich das Splitter-Gewürm von dem Kettenbrand die Vernichtung der Zerberus erhofft«, fauchte Quintus M Quiron. »Und vielleicht wäre es auch dazu gekommen, wenn alle Sicherheitsservitoren ausgefallen wären. Aber einer hat die initiale Explosion überstanden und die defensiven Systeme aktiviert.«
»Zu spät«, knurrte Izzad. Es klang wütend und traurig,
Xavis Xavius sah, was er nicht sehen wollte: einen Toten, der gestorben war, durch Heimtücke und Verrat. Und es war nicht irgendein Toter, dessen armselige Reste dort von Soldaten der Ehrengarde aufgebahrt wurden, in einem Stasisbecken, das erhielt, was sonst dem Verfall preisgegeben wäre. Eine Balsamiererin – eine Vivus, stellte Xavius fest, jung, nervös, entsetzt und den Tränen nahe – begann mit einer ersten Behandlung, und das überraschte ihn ein wenig, trotz des Schocks, den auch er erlitten hatte. Was war mit den Spuren dieses abscheulichen, unvorstellbaren Verbrechens? Waren bereits Verifikatoren eingesetzt worden, die alles aufgezeichnet hatten, jede Einzelheit, und multisensorische externe Sifter, die beobachteten, rochen, hörten und mit anderen Sinnen untersuchten, was geschehen war?
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