Der letzte Regent: Roman (German Edition)
Kraft und Schwung hat. Sie rollt schneller heran, und ihr silbergraues Wasser flüstert mit mehr Entschlossenheit über den schwarzen Sand. Es erreicht Xavius’ Füße, und er fragt sich, was ihn da berührt, Vergangenheit oder Gegenwart? Vielleicht die Zukunft?
Und während er lauscht und auf Antwort wartet, hört er auf zu fallen und verharrt in einem Moment zwischen den Zeiten.
Er saß vor dem Fenster des Krankenzimmers, in dem er einen Tag zuvor erwacht war, mit Elektroden an den Schläfen, und blickte nach draußen. Eine hübsche ockerfarbene Landschaft erstreckte sich dort, mit kleinen Baumgruppen wie blauen Tupfern, zwischen ihnen ein See rot wie … Ihm fiel kein passender Vergleich ein, und das war seltsam, denn er fand sonst immer Worte, mehr als genug.
»Wie geht es Ihnen?«, erklang eine Stimme hinter ihm.
»Es geht mir gut, Marta«, sagte er, ohne den Kopf zu drehen. »Ich sitze hier und erhole mich.«
»Das ist gut, Xavius.« Eine Frau trat von links in sein Blickfeld: hochgewachsen und sehr schlank, auffallend blass und in etwas gekleidet, das nach einem Gewand aussah, türkisfarben wie ein Himmel, an dem er einen Kopf gesehen hatte, wie seltsam. »Gefällt Ihnen der Park? Wenn Sie sich weiter gut erholen, können Sie ihn besuchen, morgen oder übermorgen.«
»Mit den Bäumen stimmt was nicht«, sagte er. »Sie sind blau.«
»Und das ist nicht richtig?«
Er lachte. »Nein, natürlich nicht, Marta. Das weiß doch jeder. Richtige Bäume sind grün. Und der See dort. Er sollte nicht rot sein.«
»Nein? Welche Farbe sollte er haben, Xavius?«
»Oh, er sollte blau sein. Oder vielleicht silbern. Ja, er könnte silbergrau sein, unter einem bedeckten Himmel.«
Marta zog einen Stuhl heran und setzte sich. Ihre großen dunklen Augen blickten freundlich, aber etwas stimmte nicht mit ihnen. Wenn sie ganz nahe herankam, so wie jetzt, und wenn er dann ihre Pupillen beobachtete … Sie bestanden aus vielen einzelnen Punkten, wie Facetten, und er wusste: Sie konnten so groß werden wie das ganze Auge. So groß, dass sie ihn verschlangen, seinen Geist und vielleicht auch seine Seele.
»Xavius?«, fragte Marta. Sie sprach sanft, aber es gab eine verborgene Härte in ihren Worten, gehüllt in Samt.
»Ja.«
»Sehen Sie mich an, Xavius.«
Er wollte sie nicht ansehen, aber er musste. Marta befahl es ihm, und Befehlen musste man gehorchen. Wer hatte ihm das gesagt? Ein Lehrer in seiner Kindheit und Jugend, und mehr als nur ein Lehrer: jemand, der ihn mit dem Leben vertraut gemacht, ihn unterwiesen hatte. Ein Mentor. Ein … Instruktor.
»Hören Sie mir jetzt gut zu«, sagte Marta, und auch ihre Augen sprachen, mit einem Glitzern, das seinen Blick einfing und festhielt. »Der Park dort draußen hat die Farben, die er haben sollte. Es sind die richtigen Farben. Die in Ihrer Erinnerung sind falsch. Sie haben noch immer die falschen Vorstellungen. Sie müssen sich von ihnen trennen und ganz in die Realität zurückkehren.«
»In die Realität?«
»Ja. Sie leiden noch immer an dem Trauma. Wir haben darüber gesprochen, erinnern Sie sich?«
»Das Trauma, ja. Wegen eines Unfalls, nicht wahr? Ich habe einen schweren Unfall hinter mir.«
Marta wich ein wenig zurück und musterte ihn aus einer etwas größeren Distanz. »Nein, es war kein Unfall, Xavius. Sie waren in einer wichtigen, sehr gefährlichen Mission unterwegs, zu der Sie sich freiwillig gemeldet haben. Sie können stolz auf sich sein. Allerdings … Bei Ihrer Rückkehr kam es zu einem Problem.«
Xavius lächelte, sah wieder nach draußen und beobachtete, wie etwas aus einem blauen Baum sprang. Es sah aus wie ein Springhörnchen, doch beim Flug zum nächsten Baum verwandelte es sich in einen gelben Vogel und flatterte davon. »Jetzt bin ich hier. Ich bin zurückgekehrt. Und Sie helfen mir dabei, mich zu erholen.«
»Ein großer Teil von Ihnen ist hier, Xavius. Aber noch nicht alles. Ich helfe Ihnen, auch den Rest zu holen. Es ist ganz einfach. Erzählen Sie mir alles. Erzählen Sie mir, was geschehen ist.«
Was ist geschehen?, dachte Xavius und erinnerte sich an einen Kopf, von den Händen einer Balsamiererin berührt, an einen verbrannten Körper, an den Tod eines Toten.
Er öffnete den Mund, um davon zu erzählen, aber dann schloss er ihn wieder. Niemand darf davon erfahren, dachte er, sah durchs Fenster zur Sonne hoch und blinzelte in ihrem weißen Licht. Es ist ein Geheimnis.
»Niemand darf davon erfahren«, sagte er. »Es ist ein
Weitere Kostenlose Bücher