Der letzte Regent: Roman (German Edition)
Menschen? –, sie waren gestorben, weil …
»Weil ich sie getötet habe«, grollte der Letzte der Titanen und schlug mit einer Faust zu, die halb so groß war wie ein Haus.
Eine andere Hand kam heran, viel kleiner, aber sie zog Xavius mit verblüffender Kraft durch den Staub, sodass die Faust nur Knochen traf und sie unter sich zermalmte.
»Laurania?« Sie trug ihn. Diese kleine und alles andere als kräftige Frau trug ihn, obwohl sie bleich wie eine Mortus war und dem Tode vielleicht näher als dem Leben. Und wie konnte sie sehen, obwohl ihre Augen geschlossen blieben? Sie sprach nicht, sie gab keine Antwort, ihre Lippen bewegten sich nicht, aber sie trug ihn dem glänzenden Grau entgegen, das in einem schwarzen Rechteck steckte, einem Grau älter als der Staub, in dem die Knochen der vielen Toten lagen. Als er den Glanz berührte, als ihn die Tür aufnahm …
Dieses Bewusstsein ist wie ein Ameisenhaufen. Gedanken krabbeln ziellos umher, bilden ein Durcheinander, das planlos und ohne Zweck scheint, aber sie hängen doch zusammen, sie sind miteinander verknüpft, sie wissen voneinander und arbeiten zusammen. Die meisten von ihnen. Eine Stelle, Teil des wimmelnden Haufens, ist ruhiger als der Rest; dort scheinen die Ameisen auf etwas zu warten. Und weiter hinten gibt es einen zweiten Ort, fast ganz vom Rest getrennt. Dort wohnen fremdartige Ameisen, sie sind dunkler als die anderen, und ein wenig kleiner, gelegentlich hebt eine von ihnen die Fühler und tastet damit in der Luft wie auf der Suche nach einem Signal.
Ich sehe meine eigenen Gedanken, denkt Xavius und beobachtet die Ameise, die diesen Gedanken trägt.
Und dann sieht er, wie etwas in den Haufen fällt, etwas Heißes, Brennendes, von kleinen Flammen umspielt.
Es tut weh, er schreit, aber es ist niemand da, der seine Schreie hören kann.
»Hören Sie mich, Xavius? Sie müssen aufwachen! Haben Sie verstanden? Wachen Sie auf!«
Es war ein Befehl, so wie General Izzad sie gab, und Xavius hätten gern gehorcht, denn er wusste, wie wichtig es war, dass man Befehlen Folge leistete. Er hatte es schon als Kind gelernt, vor sechs Jahrzehnten auf Tibetian. Ordnung und Disziplin, Einsicht in die Notwendigkeit. Das war die Basis, das feste, sichere Fundament, auf dem vor zweitausend Jahren das Bollwerk des Enduriums erbaut worden war. Sein Instruktor Paulus M Pion hatte ihn damals immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig es war, Befehlen zu gehorchen. Nur so konnten sie gegen den Feind bestehen, der die Erde zerstört hatte und die ganze Menschheit vernichten wollte. Widerspruch schuf Schwäche und Ungehorsam eine Lücke in der Verteidigung.
Etwas berührte das Gesicht mit einem Klatschen, und der Kopf rollte zur Seite. »Hören Sie mich, Xavius? Hören Sie meine Stimme? Wachen Sie auf! Kämpfen Sie dagegen an!«
Gegen was soll ich ankämpfen?, fragte sich Xavius verwundert. Hier gab es keine Gegner, nur Erinnerungen. Er dachte an den alten Paulus, der wie viele andere sein Leben in den Dienst des Enduriums gestellt hatte und als Mortus seit Jahrhunderten seine Pflicht erfüllte. Von Zweigen hatte er damals gesprochen …
Hier fließt der Strom der Zeit ins Meer der Ewigkeit. Die Worte gefallen Xavius, sie haben einen angenehmen Klang und finden die Zustimmung des Chronisten in ihm. Es ist ein großes Meer, und natürlich muss es groß ein, um so viel Zeit aufzunehmen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen hier zu einem schimmernden Grau, nein, es ist kein blauer Ozean, sondern einer wie flüssiges Perlmutt, fast wie Quecksilber. Xavius beobachtet das Meer und fragt sich, ob es Leben in ihm gibt. Dann weiß er: Es ist eine dumme Frage, denn natürlich gibt es Leben im Meer der Ewigkeit. Welchen Sinn hat Zeit, wenn sich nichts in ihr bewegt, wenn nichts in ihr lebt?
Er geht einen Schritt, er nähert sich dem Ufer, den silbergrauen Wellen, die fast lautlos, nur mit einem vagen Flüstern, über schwarzen Sand rollen, ihm entgegen, als wollten sie ihn erreichen. Und während er geht, während er langsam einen Fuß vor den anderen setzt, auf festem Boden, hat er das Gefühl zu fallen. Aber er fürchtet sich nicht, denn er weiß, dass ihn kein harter Aufprall erwartet. Man kann lange fallen, denkt er, und irgendwo tief in ihm regt sich Trauer. Man kann lange fallen, ohne irgendwo aufzuprallen, ein Leben lang und noch viel länger.
Schließlich bleibt er stehen und beobachtet eine Welle, die etwas größer ist als die anderen, die etwas mehr
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