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Der letzte Regent: Roman (German Edition)

Der letzte Regent: Roman (German Edition)

Titel: Der letzte Regent: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Geheimnis.«
    Marta stand langsam auf, und die Härte in ihren Worten verlor einen Teil der samtenen Hülle, als sie sagte: »Sie müssen uns alles sagen, Xavius. Sonst können Sie sich nicht erholen. Sonst dürfen Sie nicht hinaus in den Park. Und Sie möchten doch in den Park, oder?«
    Ja, dachte Xavius. Ich möchte in den Park. Morgen oder übermorgen. Vielleicht kann ich mich dort ebenfalls in einen Vogel verwandeln und wegfliegen.
    20
    Vielleicht, denkt er, stehe ich hier in einer Tür, die sich im Innern einer Tür befindet, und was sind Türen anderes als Möglichkeiten, Orte und Wege zu Orten zu erreichen? Und warum stehe ich hier?, fragt er sich, den Blick in perlmuttartigem Glanz verloren, in dem die Andeutungen von dunklen Rechtecken erscheinen und wieder verschwinden. Vielleicht muss ich mich entscheiden, für einen Ort, einen Weg. So wie ich mich damals entschieden habe, fügt er in Gedanken hinzu und glaubt, das Knacken eines brechenden Zweigs zu hören, in toten Händen.
    Er sieht auf seine eigenen Hände hinab, die in Handschuhen stecken, und in der Nähe sind zwei andere, ebenfalls von Handschuhen umhüllt, und er weiß, dass es kleinere und schmalere Hände sind. Er nimmt eine von ihnen, entscheidet sich und geht – oder schwimmt oder fliegt – tiefer ins Grau hinein.
    »Wann sehe ich sie wieder?«, fragte Xavius. »Meine Eltern? Wann darf ich wieder zu ihnen?« Er war sechs Jahre alt und ging neben einem Toten durch den Park des Mnemonischen Instituts von Ibbemma, Hauptstadt der Provinz Sarracin auf Tibetian. Über ihnen rauschte es in den grünen Baumwipfeln, und für ein oder zwei Sekunden wunderte sich Xavius darüber, dass sie grün waren, nicht blau.
    Der Mann neben ihm – groß und schlank, in eine dunkle Uniform der Streitkräfte gekleidet – sprach mithilfe eines Vokalisators, der seine Worte rau klingen ließ. »Du wirst sie nach den ersten Prüfungen wiedersehen. Wenn du sie bestehst.« Paulus Pion hieß dieser Mann, an den sich Xavius wenden konnte, wenn er Fragen hatte, und er war ein M, ein Mortus. Die bleichen Gesichter der Morti und ihre oft leer wirkenden Augen waren dem Knaben bereits vertraut geworden, denn am Stadtrand von Ibbemma gab es ein Bataillon der Streitkräfte. Manchmal, wenn der Wind aus Westen kam, konnte man die Soldaten bei ihren Manövern draußen in der Ebene hören, wenn die Berge das Donnern ihrer Geschütze und Raketenwerfer in Richtung Stadt zurückwarfen. Aber dies war der erste direkte Kontakt mit einem Mortus, und immer wieder sah Xavius neugierig zu Paulus hoch. Seine strenge Miene schreckte ihn nicht ab.
    Natürlich bestand er die Prüfungen, und er sah seine Eltern tatsächlich wieder, fast zehn Monate nach seinem ersten Tag in der Schule, die für siebentausend Jungen und Mädchen zu einem neuen Zuhause geworden war, für alle ausbildungspflichtigen Kinder Sarracins und der anderen sieben Provinzen des Kontinents. Er sah sie wieder und freute sich, aber aus irgendeinem Grund freute es ihn nicht so sehr, wie er erwartet hatte, und es fiel ihm schwer, seine Mutter zu umarmen. Leichter war es, dem Vater die Hand zu reichen, nur ein Händedruck, weiter nichts, immerhin war er inzwischen sieben!
    Paulus Pion hingegen wurde mehr und mehr zu einem Freund und Vertrauten, trotz seiner immer strengen Miene und oft strengen Worte. Vielleicht lag es daran, dass er ständig für ihn da war, wann immer Xavius eine Frage hatte, und dass er sich immer bemühte, Antwort zu geben. An ihn wandte er sich, als er, nach einem guten Jahr seines neuen Lebens im Mnemonischen Institut mit seinen großen Schlafsälen und den langen, von Statuen geschmückten Fluren, die erste große Enttäuschung erlebte: Er war bei der Prüfung durchgefallen, die über eine Laufbahn beim Militär entschied, bei der »Faust des Regenten«.
    »Ich darf kein Soldat werden«, sagte er traurig, als sie, wie so oft, durch den Park gingen. »Ich habe im Traumsaal, als wir die Aufgaben erhielten, davon geträumt, Soldat zu sein, ich habe es mir ganz fest vorgenommen, aber etwas ist schiefgegangen.«
    »Nicht alle können Soldat werden«, grollte Paulus und legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. Xavius hätte sie am liebsten ergriffen und festgehalten.
    »Ich weiß. Aber ich … ich …« Ich möchte so sein wie du, dachte Xavius, behielt die Worte jedoch für sich, denn sie klangen selbst für ihn zu kindisch. Man musste stark sein, erinnerte er sich, und wann konnte man Stärke besser zeigen als

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