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Der letzte Regent: Roman (German Edition)

Der letzte Regent: Roman (German Edition)

Titel: Der letzte Regent: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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vertrauen? Aber das war nur ein Gedanke; es gab noch andere, und einer von ihnen flüsterte: Sei auf der Hut.
    »Mir gefällt der Blick aus dem Fenster«, sagte er. »Mir gefällt der Park.« Der rote See glitzerte im Sonnenschein.
    Marta trat an ihm vorbei, blieb vor dem Fenster stehen und versperrte ihm die Sicht. Sie trug wieder ein türkisfarbenes Kittelkleid.
    »Sehen Sie mich an, Xavius.«
    Er hob den Blick. In ihrem Gesicht hatte sich etwas verändert. Die Augen … Die Punkte – oder winzigen Facetten –, aus denen ihre Pupillen bestanden, waren selbst aus einem Abstand von anderthalb Metern deutlich zu erkennen. Er fühlte sich angestarrt, nicht von einer Person, sondern von vielen.
    »Haben die Bäume immer noch die falsche Farbe?«
    Er zögerte. Von der Antwort hing einiges ab, begriff er. Zum Beispiel ein Ausflug in den Park. Und vielleicht noch mehr.
    »Nein«, log er. »Nein, sie haben die richtige Farbe. Richtige Bäume sind blau.«
    Das stimmt nicht, dachte er. Richtige Bäume sind grün, wie die auf Tibetian.
    Er glaubte, ein Knacken zu hören, weit entfernt, und versuchte, an Marta vorbeizusehen und zu erkennen, was bei den blauen Bäumen geschah. Vielleicht stand dort jemand, der Zweige brach. Einzelne Zweige, die schwach waren.
    Ich bin allein, dachte er. Ich bin schwach. Aber ein anderer Gedanke raunte: Wann kann man Stärke besser zeigen als in Momenten der Schwäche?
    »Glauben Sie das wirklich?«, fragte Marta. »Sind Sie davon überzeugt? Und bitte sehen Sie mich an, wenn Sie antworten.«
    Er gehorchte – es war wichtig zu gehorchen, unter den richtigen Umständen, wenn die Situation es verlangte – und sah sie an. »Ja, ich bin davon überzeugt.«
    Marta lächelte, doch der Glanz in ihren Augen veränderte sich nicht. »Das freut mich. Sie sind auf dem Weg zur Besserung, Xavius. Sie wissen inzwischen, dass dies die Realität ist.«
    »Ja, das weiß ich«, log er. »Darf ich jetzt hinaus in den Park?« Sie hatte dunkles Haar, bemerkte er. War es am Morgen, bei ihrer ersten Begegnung an diesem Tag – und gestern, und die Tage zuvor –, nicht blond gewesen?
    Marta beachtete die Frage nicht. »Um noch einmal auf Ihr Trauma zurückzukommen, Xavius …«
    »Ein Unfall«, sagte er schnell, vielleicht etwas zu schnell. Die Worte sprangen ihm von den Lippen. »Es war ein schlimmer Unfall.«
    »Nein, Xavius.« Marta zog einen Stuhl heran und setzte sich so, dass ihr Kopf – umgeben vom schwarzen Haar, das eigentlich blond sein sollte – fast genau den See abdeckte. Es blieb ein schmaler, roter Rand, fast wie ein Heiligenschein. Ein interessanter Anblick fand er, obwohl er ahnte, dass Marta keine Gloriole verdiente. »Nein, es war kein Unfall. Es ist sehr schade, dass Sie sich noch immer nicht richtig erinnern. Sie müssen ganz aus der Scheinwelt zurückkehren, die Sie noch immer gefangen hält, Xavius. Überlegen Sie. Was ist wirklich geschehen? Soll ich Ihnen ein Stichwort nennen?«
    »Nein.« Es klang fast erschrocken. Nein, er wollte und durfte sich nicht erinnern, denn es gab bestimmte Dinge, die er für sich behalten musste. Ein wichtiges Geheimnis, das es zu hüten galt.
    »Jemand starb«, sagte Marta.
    »Menschen sterben«, erwiderte Xavius schnell und fragte sich, ob er aufspringen und zur Tür laufen sollte. Konnte er den Flur erreichen, bevor Marta ihn zurückhielt? Hätte er vielleicht sogar Gelegenheit, das Hospital zu verlassen und in den Garten zu gelangen? »Sie werden geboren, sie leben, und dann sterben sie.«
    »Dieser Mensch wurde ermordet«, sagte Marta mit sanfter Gnadenlosigkeit. »Und er war bereits tot, als man ihn umbrachte. Soll ich Ihnen den Namen nennen?«
    »Nein!« Xavius’ Knie zitterten. Er blickte auf sie hinab und sah sie zittern. Er schloss die Hände um sie, wollte sie zwingen, mit dem Zittern aufzuhören, aber es nützte nichts.
    Zwei andere Hände kamen, kleiner und schmaler, fügten sich seinen hinzu. »Erinnern Sie sich, Xavius. Kehren Sie ganz zu uns zurück.«
    Nein, dachte er. Dies ist ein Trick. Du willst, dass ich das Geheimnis preisgebe.
    »Soll ich Ihnen den Namen nennen? Den Namen des Mannes, der umgebracht wurde?«
    Xavius schüttelte den Kopf und wollte sich die Ohren zuhalten, aber die kleinen, schmalen Hände waren plötzlich sehr stark und hielten seine fest.
    »Er hieß …«
    Xavius verdrehte die Augen, und seine Gedanken flohen.
    Vielleicht, denkt er, stehe ich hier zwischen den Türen, und die Türen sind Raum und Zeit und Wege zwischen

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