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Der letzte Regent: Roman (German Edition)

Der letzte Regent: Roman (German Edition)

Titel: Der letzte Regent: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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in Momenten der Schwäche?
    »Ich kenne die Ergebnisse deiner Prüfungen«, fuhr Paulus fort, nahm die Hand von Xavius’ Schulter und klopfte ihm auf den Kopf. »Ich weiß, was dort drin gut funktioniert und was weniger gut.«
    Das klang seltsam, fand Xavius. Apparate und Maschinen »funktionierten«. Menschen … lebten. Die meisten. Oder zumindest viele.
    Sie blieben unter einem Baum stehen, und nach kurzem Zögern fuhr Paulus fort: »Du wärst kein guter Soldat, nicht einmal mit voller Konditionierung.«
    »Konditionierung?«, fragte Xavius. »Was bedeutet das?«
    Doch dieses eine Mal ging Paulus nicht auf seine Frage ein. »Aber du hast andere Fähigkeiten, die sehr nützlich sein können. Einen guten Blick für Einzelheiten. Ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Und Worte. Du kannst gut mit Worten umgehen. Du weißt, wie man die Magie entfaltet, die in ihnen steckt. Du verstehst es, durch Worte Wirkung zu erzielen.«
    Xavius schwieg. Er war noch immer enttäuscht. Mit Worten konnte man die Ayunn nicht besiegen, fand er.
    Paulus schien seine Gedanken zu erraten, denn er sagte: »›Calamus gladio fortior est.‹«
    Xavius kannte diese alte Sprache inzwischen; er hatte sie vor einem Jahr im Traumschlaf erlernt, während der ersten Wochen im Institut.
    »Wie soll ein Stift stärker sein als ein Schwert?«, erwiderte er.
    »Ich meine eher das Wort, das der Stift schreibt. Oder das Wort, das eine geübte Zunge spricht.« Paulus breitete die Arme aus und drehte sich halb im Kreis. »Wir sind das Endurium, die letzte Festung, Xavius. Unsere Aufgabe besteht darin, die Menschheit zu schützen, sie vor der Vernichtung durch die Ayunn zu bewahren. Jeder von uns muss helfen und den Beitrag leisten, den er leisten kann. Manche von uns tragen das Schwert. Andere schwingen die Waffe des Wortes. Und Worte sind wichtig, Xavius. Sie bedeuten Erinnerung an das, was gewesen ist. Sie verhindern, dass wir vergessen. Sie ermahnen uns, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. Sie machen uns Mut, wenn unsere Kraft erlahmt. Manchmal können die richtigen Worte, zur rechten Zeit gesprochen, einer geschlagenen Armee doch noch zum Sieg verhelfen. Vielleicht hast du diese Gabe, Xavius. Du könntest Chronist werden.«
    »Chronist?«, fragte Xavius skeptisch, der noch immer lieber Soldat geworden wäre.
    Paulus bückte sich und hob einen Zweig auf, der aus dem Baumwipfel über ihnen gefallen war, einen langen dünnen Zweig, der zerbrechlich wirkte.
    »Hier, nimm«, sagte der Instruktor, und Xavius nahm den Zweig entgegen. »Kannst du ihn zerbrechen?«
    »Das ist nicht schwer.« Xavius zerbrach ihn mühelos.
    Paulus bückte sich, suchte kurz und hob einen weiteren Zweig auf. »Dieser ist dicker und stabiler, und vielleicht könnte er deinen Händen widerstehen, aber meinen nicht.«
    Xavius beobachtete, wie sich der dickere Zweig zwischen grauen, toten Fingern bog und dann mit einem lauten Knacken brach. Es klang seltsam, dieses Knacken, es schien durch die Ohren in seinen Kopf zu kriechen und dort Wurzeln zu schlagen.
    »Dies ist wichtig«, sagte Paulus M Pion. »Hör gut zu.«
    Er sammelte weitere Zweige, nur dünne, ging einmal um den Baum herum, und schließlich hielt er ein Bündel in den Händen. »Dies sind viele Zweige, jeder einzelne von ihnen schwach und zerbrechlich. Aber zusammen … Siehst du?« Er hob das Bündel. »Zusammen sind sie stark. Nicht einmal ich kann dieses Bündel brechen. So müssen wir Menschen sein, Xavius. Das Endurium muss wie dieses Bündel sein, stark und unzerbrechlich. Und das Bündel besteht aus uns allen, aus einzelnen Zweigen, die zusammenhalten. Einige dieser Zweige sind Soldaten, andere … Chronisten?«
    Es war eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen Paulus Pion lächelte, und wenn zuvor das Knacken durch Xavius’ Ohren gekrochen war, so bahnte sich nun dieses Lächeln einen Weg durch die Augen, um ebenfalls einen festen Platz im Gedächtnis des Jungen zu finden.
    * * *
    »Kann ich heute in den Park?«, fragte Xavius, während er aus dem Fenster schaute, die Bäume beobachtete und hoffte, erneut ein Springhörnchen zu sehen, das aus einem blauen Wipfel sprang, sich in einen Vogel verwandelte und wie von allen Fesseln befreit davonflog. »Gestern haben Sie mir versprochen, dass ich heute den Park besuchen kann.«
    »Sie vermeiden es, mich anzusehen«, sagte die Frau. »Warum, Xavius? Vertrauen Sie mir nicht?«
    Wie absurd, dachte er. Wie konnte man einer Person, die so sanft und freundlich sprach, nicht

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