Der letzte Regent: Roman (German Edition)
mich aufwachen«, sagte Xavius und blickte zum Himmel hoch. Er sah ein Stück davon, durch eine Lücke zwischen blauen Baumwipfeln.
»Sie schlafen nicht, Xavius«, erwiderte Marta. »Wie soll ich Sie wecken, wenn Sie nicht schlafen?«
Sie saßen im Park vor dem Krankenhaus, unweit eines roten Sees. »Ich bin entkommen«, sagte Xavius. »Ich bin weggelaufen und habe mich in einen gelben Vogel verwandelt.
Marta lachte sanft. »Das muss ein Traum gewesen sein. Niemand kann sich in einen Vogel verwandeln.«
Ich schon, dachte Xavius. Im richtigen Augenblick. Wenn die Zeit kommt. Dann breite ich gelbe Flügel aus und fliege fort.
Nicht daran denken, du weißt schon, nicht daran denken, auf keinen Fall. Denk an Marta, denk an blaue Bäume, rote Seen und gelbe Vögel. Aber denk nicht daran .
»Vierzehn«, sagte Rebecca.
Erinnerungen erwachten in Xavius, vielleicht insgesamt vierzehn.
»Dreiundzwanzig.«
»Neunzehn.«
»Sieben.«
Zahlen. Warum sollte man sich vor Zahlen fürchten? Aber in ihnen steckte mehr als nur eine quantitative Information. Es schienen Codewörter für den Teil von Rebecca zu sein, der durch Xavius’ Geist schlich, auf der Suche nach Geheimnissen. Xavius versuchte an nichts zu denken, aber wie befahl man den eigenen Gedanken, still zu sein? Sie ruhten nicht einmal im Schlaf, schufen Bilder, webten Träume. Das Gehirn ließ sich nicht abschalten.
Xavius hatte gelernt, es als Werkzeug zu benutzen und mit ihnen die Mikromaschinen seines Schwarms zu steuern, aber dies war etwas anderes.
Der Schwarm … Da war sie wieder, die Idee, noch immer vage, aber in ihr etwas, das langsam wuchs, wie der Embryo in einer Fruchtblase.
Auch daran nicht denken. Weg mit dem Gedanken! Weg mit ihm!
»Wer ist Marta?«, fragte Rebecca.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Xavius, was der Wahrheit entsprach.
»Und dann noch dies: fünf.«
Fünf, denkt Xavius. Wie die fünf Finger einer Hand. Wie die jeweils fünf Finger an den Händen der Balsamiererin, die über den Kopf des Toten strichen, des Ermordeten.
Nein!, rief Xavius. Auch daran darf ich nicht denken.
Aber das Flüstern – vielleicht stammt es von seinem Chronass – erwidert: Es ist ohnehin kein Geheimnis mehr. Du hast dich den Minerva-Leuten gegenüber verraten, indem du sie als Mörder beschimpft hast. Konzentriere dich darauf. Blende alles andere aus.
»Null«, sagte Rebecca. Es klang weniger musikalisch und ein wenig erschöpft. »Die Vernehmung ist beendet.«
27
»Der Regent ist also tot«, sagte Hektor Rogge. Erstaunlicherweise klang es nicht zufrieden, sogar ein wenig besorgt. »Das macht alles komplizierter.«
»Gelinde gesagt«, brummte der Mann an seiner Seite: Haidad Brugger Denslow. Der Mann mit den vielen Falten im Gesicht trug auch diesmal bunte Kleidung, aber es fehlten die klimpernden Dinge, die er bei der Besprechung mit dem Regenten an Bord der Zerberus zur Schau gestellt hatte. »Daraus ergibt sich eine ganz neue politisch-militärische Lage im Endurium. Es dürfte die Verhandlungen erschweren.«
»Vielleicht macht es sie sogar unmöglich«, sagte Rogge.
Xavius blinzelte und glaubte zuerst, dass die deaktivierten Schwarmokulare in den Augen seine Wahrnehmung beeinträchtigten. Dann begriff er, dass Dunstschwaden durch die Höhle trieben, Kältedunst, der nicht nur seinen kondensierenden Atem aufnahm, sondern auch den der anderen Personen, unter ihnen Laurania, Rogge und Denslow. Er erinnerte sich nur undeutlich daran, wie er hierhergekommen war. Der Schwebewagen, der sie jetzt leise summend auf einem Antigravpolster durch die Höhle trug, hatte sie durch einen dunklen, mehrere Kilometer tiefen Schacht gebracht. Offenbar befanden sie sich hier unter dem Gletscher, denn Wände und Boden bestanden nicht aus Eis, sondern aus Felsgestein. Es war kalt, aber nicht so kalt wie an der Oberfläche von Pellegren, und Xavius atmete die dichtere Luft ohne Atemmaske.
Er trug weder Fesseln noch einen Demobilisierer, stellte er fest. Und der Ring steckte am Mittelfinger der linken Hand! Er erinnerte sich an sein verzweifeltes Bemühen, nicht an ihn zu denken. Dass er ihn noch besaß, bedeutete vermutlich, dass die Minerva-Leute keinen Verdacht geschöpft hatten. Aber wie war das möglich?, fragte eine skeptische, argwöhnische Stimme in Xavius. Konnte es sein, dass der Ring – sein Inhalt, der Geheimnisse des Regenten barg – zumindest bei der oberflächlichen Untersuchung durch einen Scanner oder physischen Sifter nichts verriet? Oder
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