Der letzte Schattenschnitzer
Einhalt geboten?«
»Wir wussten vom Eidolon, dem Schatten ohne Herrn. Aber Ripley hatte es gut verborgen. Und er schwieg über seinen Aufenthaltsort, sein Versteck. Selbst, als wir seinen Körper und Schatten folterten, bis beide auf das schlimmste verkrüppelt waren …«
»Wofür aber hat er das Eidolon geschaffen?«
»Damit es in den Limbus dringt und die gewöhnlichen Schatten die Freiheit lehrt.«
Jonas verstand noch immer nicht.
»Aber was schadet es, wenn die Schatten ihre Knechtschaft abstreifen?«
»Es wäre das Ende der Welt. Denn zugleich würden sie lernen, ihre Herren zu beherrschen. Wie das Eidolon Maria …«
Diese Worte ließen Jonas empört auffahren:
»Nein! Maria ist nicht, was Ihr denkt! Sie ist nicht dieses Eidolon, sie hat einen Schatten und …«
»Oh ja, einen Schatten hat sie. Eigens gezüchtet, uns glauben zu machen, es hätte sie verlassen.«
Jonas wurde wütend. Er wollte nicht, dass Maria war, was der Alte behauptete. Er wollte, dass sie blieb, was er in ihr sah.
»Aber das ist doch Unsinn! Wer sollte einen solchen Schatten züchten?«
Der Alte antwortete ruhig und bedacht:
»Die Frau, die dich nach Ambrì brachte.«
»Mademoiselle Stiny?« Die Ungläubigkeit Jonas Mandelbrodts wuchs noch weiter. Er hatte im Schatten nur drei Verbündete gefunden: den Wächter, Maria und diese Frau. Und nun sollten zwei davon ihn hintergangen haben?
Der Alte aber war noch nicht am Ende:
»Sie war lange Zeit Teil des Rates, aber sie verbarg ihr wahres Wesen ebenso vor den Schatten wie auch den Menschen. Selbst noch vor uns.«
Jonas schluckte. Das konnte, durfte nicht wahr sein. Der Schatten des Unbekannten hatte sie doch verschlungen, ihr Siegel gebrochen und …
»In den Schatten, Jonas, sind die Dinge mitunter nicht, wie sie scheinen. Und nichts schwindet endgültig aus ihnen. Erzsebet Stiny hat einen Plan. So, wie auch der Wächter oder das Eidolon einen haben. Und du, mein Junge, stehst im Zentrum all dieser Pläne.«
Jonas wollte widersprechen, doch der Alte ließ ihn so tief in seinen Schatten dringen, dass er innerhalb eines Augenblicks all die Beweise kannte, welche die Spione des Rates über Erzsebet Stiny gesammelt hatten. Und im gleichen Moment wusste er, dass sie ihn tatsächlich verraten hatte.
Für Jonas Mandelbrodt brach eine Welt zusammen. Denn wenn Mademoiselle Stiny ihn verraten hatte und das Eidolon noch immer in Maria steckte, dann existierte das Mädchen, das er liebte, womöglich nicht einmal. Ihn schauderte, als er sich an ihre Umarmung erinnerte. Die Einsamkeit Jonas Mandelbrodts hatte ihn blind gemacht. Und Carmen Maria Dolores Hidalgo, die seine einzige Hoffnung gewesen war, war womöglich nicht mehr als die willenlose Marionette eines falschen Schattens.
Irgendwo in seinem Inneren aber, zwischen allem Wissen und Zweifeln, glaubte er, dass sie doch dort war. Irgendwo in diesem kleinen, zerbrechlichen Körper. Verborgen vor der Welt und selbst dem Eidolon.
Der Alte aber ließ ihn diese Gedanken nicht zu Ende führen.
»Du sorgst dich noch immer um jenes Mädchen. Und dabei sollte deine Sorge vielmehr dem Rest der Menschheit gelten.« Doch während er diese Worte sprach, bewunderte er den Jungen für seine Gefühle. Dafür, dass er in seiner Zuneigung einen Menschen über alle anderen zu stellen wagte. Und Ahasver, das ungeliebteste Kind Gottes, ahnte die Rolle dieses Jungen beim Untergang der Welt. Alles veränderte sich. Am Ende würden nur zwei Möglichkeiten bleiben. Und allein darum würde er die Schatten der Titanen freilassen. Schon um ihrer selbst willen …
»Nun aber musst du dich beeilen, Jonas. Denn wenn das letzte Siegel bricht, trennt nur noch das künstliche Tor das Eidolon vom Limbus …«
»Von welchem Tor sprecht Ihr?«
»Von dem, das Ripley dem Eidolon einst als Weg in die Schatten schuf und das sich nun in der Obhut des Wächters befindet.«
Jonas begriff nicht. Nichts konnte die Macht des Wächters beugen. Wenn sich das Tor in Ambrì und unter seinem Schutz befand, dann war es in Sicherheit! Die Stimme des Alten lachte im Dunkel leise auf.
»Du hast noch immer nicht verstanden. Der Wächter, Jonas, hat sich von der Schöpfung abgewandt. Er hat den Schatten Ripleys befreit, sich mit der Stiny verbündet und beschlossen, dem Eidolon den Weg zu ebnen.«
Jonas schwirrten die Sinne. Er wollte all das nicht wahrhaben, wehrte sich gegen den Gedanken, dass alles enden sollte.
»Aber das fünfte Siegel. Es ist noch nicht gebrochen!«
Die
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