Der letzte Schattenschnitzer
Antwort, die aus dem Schatten des vertrockneten Körpers drang, ließ ihn schaudern:
»Niemand wird dieses Siegel schützen, mein Junge. Der Engel hat alles von langer Hand geplant. Denn das letzte Siegel ist der Wächter selbst …«
Jonas flog förmlich nach Ambrì. Und tief in seinem dunkelsten Inneren fragte er sich, ob es richtig war, dass seine Sorge mehr Maria als dem Rest der Menschheit galt. Was aber hatte er der Menschheit schon zu verdanken? Er hatte nie ein Teil von ihr sein dürfen, war vor den Toren ihrer Gemeinschaft auf und ab geirrt. Ein Autist, ein Ausgestoßener, mehr ein Schatten als einer der Ihren. Maria hingegen bedeutete Hoffnung. Was immer auch sich in ihr versteckte. Das einzige und letzte bisschen Hoffnung, dass es je für ihn gegeben hatte. Sie beide waren das Querkraut, die Schattenschreiter, die abnormalen Bilder, die das Licht der Sonne warf. Und wenn sie sich fanden, taten sie es weder als Menschen noch als Schatten, sondern als zwei Ausgestoßene beider Welten. Oh ja, er sorgte sich mehr um Carmen Maria Dolores Hidalgo als um den Rest der Menschheit. Und für ihn fühlte es sich richtig an.
Was aber sollte er tun? Dem Schatten des Engels trotzen? In dessen eigenem Refugium? Jetzt, wo ihm nicht einmal mehr Harnisch, Kappe und Schwert geblieben waren? Jonas war verwirrt, in seiner Schwärze wirbelten die Gedanken durcheinander. Irgendetwas stimmte nicht, er hatte das Puzzle noch nicht ganz zusammengesetzt. Der Wächter wollte, dass er die Dinge verstand. Und selbst der Alte, der ihn ursprünglich hatte töten lassen wollen, hatte ihm schlussendlich geholfen zu verstehen. Beide hatten angedeutet, dass sie ihn, Jonas Mandelbrodt, für auserwählt hielten: Doch auserwählt wozu? Im Plan des Alchemisten eine Rolle zu spielen. Aber um diesen vollends zu erfüllen, brauchte es nur noch das Eidolon, das letzte Siegel und das Tor. Nichts davon hatte mit ihm zu tun. Oder sollte er womöglich alles aufhalten und sich am Ende doch dem Eidolon entgegenstellen?
Sein Schatten raste durch die Welt, während diese Gedanken Jonas durchzuckten. Am Ende stand nur eine einzige Wahrheit unerschütterlich fest: Er würde tun, was nötig war, um Maria zu retten.
Und dann ahnten seine Schattensinne in der Ferne die Zuflucht. Sie kam näher, wurde größer. Die Häuser brannten. Ein Großteil der alten Reliefs war zertrümmert, und die steinernen Engel lagen zerschmettert am Boden. Verkrüppelt prangten die Reste der biblischen Wunder an den Wänden der Stadt, die unter dem Feuer der vorrückenden Söldnerarmee erzitterte.
In den Straßen erkannte Jonas Verwundete. Schatten und Menschen wanden sich unter Schmerzen. Er sah Gefesselte, sogar Tote.
Die Armee des Rates kämpfte sich langsam voran. Immer wieder gingen die Söldner in Deckung, erneuerten die Bannzeichen auf ihren Waffen und Rüstungen, um sich gegen die Schatten zu wappnen.
An ihren Zeichen zerschellten die Schatten, unter ihren Waffen brachen ihre Herren zusammen, und in Ambrìs Straßen mischten sich Blut und Schattensplitter. Der magische Widerstand schmolz ebenso wie der menschliche, und ein Häuserzug nach dem nächsten fiel unter dem Ansturm der Diener des Rates.
Mit Schrecken nahm Jonas wahr, wie die Zahl der Verteidiger zwischen Angreifern und Hütte weniger wurde. Dort oben lag sein wehrloser Körper und verbarg Maria sich vor der Welt. Und bang fragte er sich, ob diese Männer kraft ihrer Zeichen doch womöglich sogar den Wächter selbst würden niederringen können …
Noch während er darüber nachdachte, wie er seinen Schatten unbemerkt durch ihre Reihen bringen sollte – schließlich konnte er sich nur von Schatten zu Schatten fortbewegen und sich nicht wie der Wächter über sie erheben –, spürte er mit einem Mal etwas weit Grauenhafteres als jenes magisch gewappnete Heer, das in den brennenden Straßen wütete. Er spürte die Anwesenheit uralter, riesiger Schatten.
Jonas blickte sich um. In seinem Rücken, noch weit entfernt, schoben sie sich am Grund der Berge voran. Quälend langsam, doch ohne dass irgendetwas sie hätte aufhalten können. Die Titanen, mächtige, gramerfüllte Schemen der griechischen Antike, die ebenso wie die Söldner auf Ambrì marschierten …
Was auch immer seine Bestimmung oder seine Aufgabe war, Jonas würde nicht viel Zeit bleiben, sie zu erfüllen. Mit dem furchterregenden Dunkel der Titanen im Rücken stahl er sich durch die Reihen der Söldner, glitt von Vorsprung zu Vorsprung, von
Weitere Kostenlose Bücher