Der letzte Schattenschnitzer
geschnittenen und bearbeiteten Schatten, bei deren Anblick es nur schwer vorstellbar war, dass sie einmal von Menschenhand geschaffen worden waren.
Jonas Mandelbrodt schritt weiter, verließ den Raum voller Masken und stieß die Tür auf, die in das nächste Zimmer führte. Er war bereit, mehr zu sehen, mehr weltlichen Verfall und mehr schattenhafte Herrlichkeit. Doch auf das, was seine dunklen Sinne nun zu sehen bekamen, war er nicht vorbereitet.
Der Raum hatte eine einzige, nach Norden weisende Fensterfront, zwanzig gläserne Scheiben, die über die komplette Länge des Raumes reichten. Keine davon war noch ganz. Splitter lagen am Boden, und die Wände waren dunkel von Ruß, Schmutz und Schimmel. Draußen am Horizont, gerade noch wahrnehmbar für seine Schattensinne, erhob sich hinter grauen, leeren, grabsteinähnlichen Häusern ein verwaistes Riesenrad.
Das Knarren der Gondeln hallte durch die rostigen Straßen und drang bis hier hinauf.
Hier musste es einmal gebrannt haben. Trotz des Windes, der durch die zersplitterten Fenster blies, war das Zimmer von einem eigentümlichen Geruch nach Verfall und Zersetzung erfüllt, der wie ein zäher Fluch darüber lag und selbst noch für Jonas’ Schattensinne unerträglich schien. Und dann erkannte Jonas auch den Ursprung des Geruches. Er ging von dem Bett in der Mitte des Raumes aus. Ein eisernes, von rotem Rost überzogene Gestell und eine fleckige Matratze, auf der er jetzt eine menschliche Gestalt ausmachte.
Jonas war sich zunächst nicht sicher, ob der Mann überhaupt noch am Leben war. Der eingefallene Körper wirkte wie der einer Mumie, als hätten Grabräuber unter jener vor Schmutz starrenden Decke ihre Beute abgeladen. Das vertrocknete Gesicht war uralt, die graue Haut von unzähligen Falten durchzogen. Dann aber nahm Jonas wahr, wie der brüchige Brustkorb sich kaum merklich senkte und hob. Auf irgendeine merkwürdige Art war diese unwirkliche Gestalt noch immer am Leben.
Und während ihm klar wurde, dass dies wohl der älteste Mensch war, den er jemals gesehen hatte, begriff er, dass er niemals eine Ahnung davon gehabt hatte, wie alt der Älteste wirklich war. Und auch jetzt hätte er dieses Alter nicht mit Jahren beziffern können. Der Mann vor ihm wirkte so unendlich alt, dass schon seine Nähe ihm Ehrfurcht einflößte.
Unter den hauchdünnen grauen Lidern flimmerten die Augen des Alten. Ein schwacher Blick, der jedoch ausreichte, den Schatten zu erkennen, der ihm gegenüberstand. Der Alte begriff, dass Jonas sich, um sich zu manifestieren, nicht irgendeine Form erwählt hatte. Er erkannte das Abbild und wusste, dass die Dinge sich so verhielten, wie er es geahnt hatte, seit er Jonas in Bomarzo erkannt hatte. Es war richtig gewesen, den Knaben zu verschonen und dem Plan des Engels nachzuspüren. Die Zeit war gekommen, dem Ende aller Dinge seine gerechte Chance einzuräumen.
»Fürchte dich nicht, Jonas. Dieser Körper kann dir nichts antun. Und er sehnt sich inzwischen so sehr nach seinem eigenen Ende, dass das deine ihm gleichgültig geworden ist.«
Jonas’ Schatten umfuhr das Bett. Erspürte den vertrockneten Körper darin mit einer Mischung aus Staunen, Bedauern und stillem Entsetzen.
»Ist das Euer Körper?«
Die Stimme des Ältesten klang schwermütig und brüchig, als er antwortete:
»Seit so unendlich langer Zeit … Womöglich bin ich der älteste Mensch auf diesem Planeten. Aber du siehst, es ist ein jämmerliches Schicksal.«
Jonas aber hielt die Unsterblichkeit für etwas anderes:
»Aber ist es nicht ein Wunder? So lange zu leben? Länger als alle anderen? Ideen, Zeitalter und ganze Völker zu überleben?«
Der Älteste lachte tonlos auf. Und es war, als ob Skugga auch ihn berührt hätte.
»Sie ihn dir doch an. Diesen Körper, dieses Gebilde aus porösen Knochen und vertrocknetem Gewebe. Selbst Tutanchamun war besser erhalten, als sie ihn fanden! Nein, mein Junge, Unsterblichkeit in dieser Form ist kein Wunder. Weißt du, ein alter Zigeunerfluch lautet: Mögest du ewig leben. Aber es braucht einige hundert Jahre, um zu begreifen, dass es tatsächlich ein Fluch ist …«
Und nun stellte Jonas sich die Frage, die ihn beim Anblick dieser unendlich alt wirkenden Gestalt bereits von Anfang bewegt hatte: »Aber wer bist du, wenn du so alt bist? Und wie ist die Unsterblichkeit dir zuteil geworden?«
»Glaub mir, Jonas, du weißt längst, wer ich bin. Du weißt weit mehr, als du ahnst, mein Junge. Und wenn es dir nicht auf Anhieb in
Weitere Kostenlose Bücher