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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian von Aster
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den Sinn kommt, lausche in deinen Schatten hinein. Denn er weiß mehr noch als du …«
    In den Worten des Alten schwang ein Unterton mit, den Jonas nur schwer deuten konnte. Doch der Junge spürte, dass er diesem Mann vertrauen konnte. Denn wenn der Älteste ihn hätte vernichten wollen, hätte er dazu bereits in Montserrat Gelegenheit gehabt und ihn darüber hinaus wohl niemals hierher, zu seinem Körper geführt.
    In dem riesigen Bett wirkte der mumienhafte Leib beinahe verschwindend klein. Die trockene, graue Haut war fleckig und hob sich kaum gegen die dreckige Bettdecke ab. Jonas betrachtete das uralte Gesicht, die zahllosen Falten, die merkwürdigen Mustern, zu denen sie sich verbanden.
    Er versuchte sich erinnern, versuchte zu wissen , wer dieser Mann wohl sein mochte. Doch es gelang ihm nicht.
    »Ich spüre dein Staunen, mein junger Freund.«
    Die Lippen des Alten bewegten sich nicht, während er dies sagte. Seine Stimme klang noch immer in Jonas’ Innerem, es war noch immer der Schatten, der zu ihm sprach.
    »Du wirst verzeihen, aber dieser Körper hat bereits seit über hundert Jahren nicht gesprochen. Er ist nicht mehr zu viel nutze. Doch bedauerlicherweise bin ich an ihn gebunden.«
    Jonas nickte nachdenklich. Und dann wollte er wissen, warum der Alte, wenn ihm das ewige Leben eine solche Last geworden war, nicht einfach starb. Und auch darauf antwortete der uralte Schatten ohne zu zögern:
    »Vielleicht werde ich das bald. Wenn alles endet, werde womöglich auch ich sterben können. Doch darüber habe nicht ich zu entscheiden.«
    »Aber Ihr seid ein Schattenkundiger. Nach dem Wächter selbst womöglich der mächtigste auf dieser Welt! Ihr habt die Macht, zu tun, was immer Euch beliebt!«
    »Nein, das habe ich nicht, mein Junge. Und das, was ich bin, bin ich allein eines Fluches wegen, der mich für immer mit dem Wächter von Ambrì verbindet.«
    »Ihr seid mit dem Engel verbunden?«, staunte Jonas.
    »Mit dem, aus dem er hervorging. Gott selbst war es, der mich einst verfluchte.«
    Ungläubig spürte der Junge die Wahrheit in den Worten des Alten, und die Neugier in ihm schien seinen Schatten schier zerreißen zu wollen. So weit aber ließ sein Gegenüber es nicht kommen …
    »Es war in den Tagen, als der Sohn Gottes sein Kreuz durch die Straßen Jerusalems bis nach Golgatha schleppte. Irgendwann brach er erschöpft auf den Stufen meines Hauses zusammen. Doch statt dass ich ihn ruhen ließ oder ihm Wasser reichte, verhöhnte ich ihn und vertrieb ihn von meiner Schwelle. Und dafür bestrafte mich Gott mit dem ewigem Leben.«
    Jonas verstand. Er kannte die Geschichte. Sie war eine von vielen, die sein Schatten ihm einst erzählt hatte. Ahasver, der ewige Jude, auf den der Fluch des ewigen Lebens niedergekommen war.
    Jonas überkam ein sonderbares Gefühl, beinahe so, als ob sein eigener Schatten sich nun tatsächlich zu erinnern begann.
    Der Alte aber hielt nicht inne und wisperte weiter im Dunkel: »Lange irrte ich durch die Welt, lebte und lernte, bis ich alles gesehen hatte und zum ersten Male sterben wollte. Ich aber starb nicht, und mein Leiden dauerte an, bis ich mich der Magie der Schatten verschrieb. Keine hundert Jahre vergingen, bis es für mich keine Geheimnisse mehr im Dunkel gab. Und dann erkannte ich, wie viel mehr mir mit Hilfe dieses Wissens noch möglich war: Mit Hilfe der Schatten konnte ich mich mit der Kirche, dem Statthalter Gottes auf Erden, verbünden und darauf hoffen, dass Er mir für mein einstiges Vergehen vergab. Ich begründete den Rat und bot Papst Sixtus IV. ein Bündnis an. Gemeinsam wollten wir das Gleichgewicht aufrechterhalten und die Schatten in unseren Dienst zwingen. Und dabei ging es mir von Beginn an um nichts anderes als mein eigenes Seelenheil …«
    Die Worte des Alten waren kühl. Und doch ergriff das Geständnis dieser tragischen Gestalt sowohl Jonas als auch seinen Schatten und ließ beide erschauern.
    »Alle, die nicht mit uns waren, waren gegen uns. Wir merzten sie aus. Einen nach dem anderen. Alchemisten, Schattenschnitzer, alle. Wir nannten sie Ketzer und Ungläubige, und die Kirche setzte ihr Siegel unter die Urteile. Die Scheiterhaufen schienen nie mehr verlöschen zu wollen. In jenen Tagen wandte der Wächter sich von uns ab. Denn er erkannte, dass es uns nicht länger um den Willen des Herrn, sondern um Macht ging … Und dann, als der Schatten des Papstes selbst in den Limbus einging und Teil des großen Dunkels wurde, war ich noch immer nicht

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