Der letzte Streich des Sherlock Holmes, Bd. 4
Carfax. Warum sie ihr diesen Scheck ausgestellt hat, haben wir noch nicht feststellen können. Ich bezweifle jedoch nicht, daß Ihre Untersuchungen die Sache bald aufklären werden.«
» Meine Untersuchungen?«
»Während eines Erholungsausflugs nach Lausanne. Sie wissen, daß ich London unmöglich verlassen kann, solange der alte Abrahams in Todesangst um sein Leben schwebt. Außerdem ist es grundsätzlich am besten, wenn ich das Land nicht verlasse. Scotland Yard fühlt sich einsam ohne mich, und es gäbe eine ungesunde Erregung unter den Kriminellen. Also fahren Sie, mein lieber Watson, und wann immer Ihnen mein bescheidener Rat einen so extravaganten Preis wie zwei Pennies pro Wort wert erscheinen sollte, er steht Tag und
Nacht am Ende des Kabels zum Kontinent zu Ihrer Verfügung.«
Zwei Tage später befand ich mich im Hotel ›National‹ in Lausanne, wo mir jede Art höflichen Entgegenkommens von Monsieur Moser persönlich, dem bekannten Hotelier, zuteil wurde. Lady Frances hatte sich hier, wie er mich informierte, mehrere Wochen aufgehalten. Alle, mit denen sie in Berührung gekommen war, mochten sie gern. Sie war nicht über die Vierzig hinaus, noch immer hübsch, und ihre ganze Erscheinung bezeugte, daß sie in ihrer Jugend eine wunderschöne Frau gewesen sein mußte. Monsieur Moser wußte nichts von wertvollem Schmuck, aber das Personal hatte bemerkt, daß sie den schweren Koffer in ihrem Schlafzimmer immer sorgfältig verschlossen hielt. Marie Devine, die Zofe, war ebenso beliebt wie ihre Herrin. Sie war jetzt mit einem der Oberkellner des Hotels verlobt, und so gab es keinerlei Schwierigkeiten, ihre Adresse zu erfahren. Sie wohnte in Montpelier, Rue de Trajan 11. Das alles notierte ich mir, und mir schien, daß Holmes selber sich beim Ermitteln der Fakten nicht gewandter angestellt haben würde.
Nur eine Ecke lag noch im Dunkeln: Keines meiner Lichter konnte den Grund der plötzlichen Abreise der Dame erhellen. Sie war sehr glücklich in Lausanne gewesen. Alles sprach dafür, daß sie die Absicht gehabt hatte, die ganze Saison in ihren luxuriösen Zimmern mit Blick auf den See zu verbringen. Und doch war sie leichthin von einem Tag auf den anderen abgereist, was sie mit den unnötigen Hotelkosten für eine ganze Woche belastete. Nur Jules Vibart, der Liebhaber der Zofe, wußte eine Meinung anzubieten. Er verband den plötzlichen Aufbruch damit, daß ihr ein oder zwei Tage vorher im Hotel ein großer, dunkler, bärtiger Mann einen Besuch gemacht hatte. »Un sauvage – un véritable sauvage!« rief Jules Vibart. Der Mann logierte irgendwo in der Stadt. Er war gesehen worden, wie er auf der Seepromenade eindringlich auf Madame einsprach. Dann hatte er im Hotel nach ihr gefragt. Sie hatte sich geweigert, ihn zu empfangen. Er war Engländer, aber seinen Namen hatte man nicht behalten. Madame hatte unmittelbar danach den Ort verlassen. Jules Vibart und, was von größerer Bedeutung war, Jules Vibarts Liebste meinten, daß der Besuch und die Abreise in einem ursächlichen Zusammenhang stünden. Zu einem einzigen Punkt konnte Jules Vibart nichts beitragen, und der betraf den Grund, weshalb Marie von ihrer Herrin weggegangen war. Darüber konnte oder wollte er nichts sagen. Wenn ich ihn erfahren wollte, müßte ich nach Montpelier fahren und sie fragen.
So endete das erste Kapitel meiner Recherchen. Das zweite war dem Ort gewidmet, den Lady Frances Carfax aufgesucht hatte, als sie Lausanne verließ. In diesem Zusammenhang stieß ich auf Verschleierungstaktiken, die in mir die Meinung stärkten, daß sie sich in der Absicht entfernt hatte, jemanden von ihrer Spur abzuschütteln. Weshalb sonst war ihr Gepäck nicht offen nach Baden Baden adressiert worden? Die Koffer wie auch sie selber erreichten den rheinischen Kurort nach einer ziemlich weiten Rundreise. Soviel erfuhr ich durch den Geschäftsführer der Zweigstelle von Cooks. Also reiste ich nach Baden-Baden, nachdem ich noch einen Eilbericht über meine Ermittlungen an Holmes abgesandt und als Erwiderung ein halb spaßhaftes Lobtelegramm erhalten hatte.
In Baden-Baden war es nicht schwierig, der Spur zu folgen. Lady Frances hatte zwei Wochen im ›Englischen Hof‹ logiert. Dort hatte sie die Bekanntschaft eines Dr. Shlessinger, der Missionar in Südamerika gewesen war, und seiner Frau gemacht. Wie die meisten alleinstehenden Damen fand Lady Frances Trost und Erfüllung in der Religion. Dr. Shlessingers außergewöhnliche
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