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Der Letzte Tag Der Schoepfung

Der Letzte Tag Der Schoepfung

Titel: Der Letzte Tag Der Schoepfung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Jeschke
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das wird alles mächtig hochgespielt. Sullum Voe wird zu einem riesigen Ölhafen ausgebaut, die Shetland-und Orkney-Inseln mit Raffinerien voll gepflastert, um das reich sprudelnde Gold der Britischen See aufzunehmen, zu verarbeiten und zu verschiffen. Aber jede zweite Bohrinsel zwischen dem Ekofisk und der schottischen Küste wird eine getarnte Zeitmaschine sein, die das Zeug aus der Vergangenheit heraufpumpt. In ein paar Jahren kann die Pemex samt ihrem vertrottelten Kaiser als Galionsfigur mit ihrem Öl hausieren gehen. Wir werden ihr kein Barrel mehr abnehmen. Gemeinsam mit der BP und den anderen Europäern, die nicht mit Habsburg liiert sind, werden wir in der Britischen See ungeahnte Vorräte ›erschließen‹.« Charles zuckte die Achseln. »So stellte Francis sich das vor - und ich auch, bevor ich eines Besseren belehrt wurde. Deshalb habe ich mich ja zur Navy gemeldet, um unserem Land aus dem aussichtslosen Schlamassel zu helfen. Ich war vielleicht enttäuscht, als ich hier ankam und sah, was los war. Ich hätte heulen können, Steve, als mir klar wurde, wie dilettantisch das alles aufgezogen worden war, sodass das Scheitern schon einprogrammiert sein musste.«
    Sie schwiegen eine Weile. Steve mochte den kleinen agilen Mann, auch wenn er etwas Verbittertes an sich hatte. Er war bei allem Eigensinn bedingungslos Kamerad, und Steve hatte das Gefühl, dass er in ihm einen Freund gewonnen hatte. Um von dem Thema abzulenken, das Charles so erregte, sagte Steve: »Du hast vorhin gesagt, in dem Roman von Mark Twain seien Huckleberry Finn und Tom Sawyer über den Mississippi geschwommen.«
    »Ganz richtig. Sind sie.«
    »Ich glaube, meinen Mark Twain recht gut zu kennen. Über den Fluss sind die beiden nie geschwommen. Sie sind zu dieser Insel hinaus …«
    »Hör mal gut zu, Steve. Ich kenne meinen Mark Twain auch sehr gut, habe alle seine Bücher gelesen. Ich kenne seine Romane, seine Autobiografie und seine Reiseberichte, ich habe sein ›Als Gringo quer durchs Kaiserreich‹, in dem er Maximilian II. auf den Arm nimmt, ebenso gelesen wie seinen ›Yankee an König Artus’ Hof‹, in dem er dem monarchistischen Klüngel und den subalternen Klerikern der Habsburger eines auswischt.«
    Steve starrte Charles entgeistert an, da dämmerte ihm die ungeheure Wahrheit.
    »Wo wurde Mark Twain geboren?«, fragte er.
    »Das weiß doch jedes Schulkind«, sagte Charles. »In Thebes, Illinois.«
    »Schon mal von der Stadt Hannibal gehört?«
    Charles dachte einen Moment lang nach. Dann schüttelte er den Kopf. »Nie gehört. Vielleicht liegt das Nest irgendwo jenseits des Flusses.«
    Steve nickte. »Diesen Mark Twain kenne ich nicht«, sagte er. »Aber wenn du meinen Mark Twain kennen lernen willst - ich habe eine Ausgabe seiner wichtigsten Werke in meinem Reisesack.«
    Am Abend händigte er ihm das zerfledderte Exemplar einer Taschenbuchausgabe der Werke Mark Twains aus. Murchinson blieb verschwunden; den ganzen nächsten Tag sah ihn niemand im Lager. Am Morgen darauf erschien er auf der Felskanzel, wo Ricardo Ruiz und Steve auf Horchposten saßen. Er gab das Buch wortlos zurück. Er sah blass aus, war völlig übernächtigt und sichtlich verstört.
    Ihm muss zumute sein, als hätte er überraschend in einen Abgrund geblickt, dachte Steve.
    Murchinson starrte lange schweigend in die Westsenke hinaus. Es ging ein scharfer Wind, scharf genug, dass er Tränen in die Augen trieb. Charles wischte sie sich aus den Augenwinkeln und sagte mit rauer Stimme: »Unglaublich.« Und nach einer Weile: »Ich wusste nicht, dass so viel verloren ging.« Dann wandte er sich mit einem Ruck um und blickte Steve in die Augen, mit einer Mischung aus Neugier und ängstlicher Beklommenheit, ja, sogar ein wenig Furcht glaubte Steve zu entdecken.
    »Ich sehe dich, Steve«, sagte er. »Sehe dein gebräuntes Gesicht, die kleinen trockenen Fältchen um die haselnussfarbenen Augen, als hättest du zu viel gelacht und zu viel in die Sonne geblickt. Ich sehe deine vollen dunklen Lippen, deine angegrauten Schläfen, die kleinen, etwas abstehenden Ohren. Du bist mir vertraut. Du bist wirklich und mir nah. Und dennoch bist du mir ferner als eine andere Galaxis, bist für mich irgendwie ein Monster - wie dein fremder Mark Twain. Ich wäre dir nie begegnet, wenn man mich in meiner Welt gelassen hätte. In meiner Welt bist du wahrscheinlich nie geboren worden. Wo wurdest du geboren, Steve?«
    »In Los Angeles.«
    »In Los Angeles«, sagte Charles und sprach den

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