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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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Paulo? Wie spät ist es?«
    »Nach Mitternacht.«
    »Was ist mit deinem Gesicht?«
    »Nichts.«
    »Es ist geschwollen.«
    »Ich bin gekommen, um was anderes mit dir zu bereden.«
    »Hat dein Vater dich wieder geschlagen?«
    Sie flüsterten. Paulo konnte nicht stillhalten. Das Gespräch mit Antonio hatte ihn unruhig gemacht.
    »Der Mann von der Toten hat gestanden.«
    Als er Eduardos gleichgültigen Blick bemerkte, wiederholte er: »Der Mann. Der Zahnarzt. Er hat gestanden.«
    »Ich weiß.«
    »Sie haben ihn verhaftet.«
    »Ich weiß.«
    »Er hat gesagt, dass er’s war.«
    »Hab ich schon gehört. Mein Vater hat sich mit meiner Mutter darüber unterhalten.«
    »Aber es ist nicht wahr.«
    »Wer sagt, dass es nicht wahr ist?«
    »Er kann’s nicht gewesen sein.«
    »Warum nicht?«
    »Der Zahnarzt ist alt und schwach.«
    »Trotzdem hat er sie umgebracht.«
    »Wie soll er denn eine so große Frau, wie sie eine war, umgebracht haben, Eduardo? Du hast doch gesehen, wie groß die Blonde war.«
    »Er hat gestanden.«
    »Aber er war’s nicht.«
    »Erst hat er sie mit irgendeinem Mittel betäubt, und dann hat er sie erstochen.«
    »Das glaub ich nicht.«
    »Mehr als ein Dutzend Mal hat er zugestochen, hat mein Vater gesagt.«
    »Und warum hat er die Leiche so weit fortgebracht?«
    Kurze Pause.
    »Weil sie«, überlegte Eduardo, »am See schwerer zu finden war?«
    »Warum hat er die Leiche nicht zu Hause gelassen, wenn er sowieso gestehen wollte?«
    »Er hat erst hinterher gestanden. Er hat es bereut. Er war nervös, also hat er die Leiche weggeschafft und …«
    Paulo unterbrach ihn: »Und wie hat er die schwere Leiche zum Auto gebracht?«
    »Gezogen? Das ist es: Er hat sie gezogen.«
    »Warum hat er die Leiche nicht rausgeworfen, bevor er am See war? Warum hat er sie nicht in einen Tümpel geworfen? In einen Fluss? Warum hat er sie nicht mit einem Gewicht im See versenkt, damit sie untergeht und die Fische sie fressen und niemand sie jemals wiederfindet und er sagen kann, dass seine Frau verschwunden ist, dass sie weggelaufen ist?«
    Eduardo entgegnete unsicher: »Weil ihm keine Zeit dazu blieb. Weil sie zu schwer war, um sie durch den Schlamm zu schleppen. Weil er nichts hatte, woran er sie festbinden konnte.« Und dann, voller Überzeugung: »Wenn er sie nicht umgebracht hat, warum hätte er es dann gestehen sollen?«
    Paulo, der sich über ebendiese Frage seit Stunden allein in seinem Zimmer den Kopf zerbrochen hatte, fragte zurück: »Hat sie denn nicht geschrien, als sie erstochen wurde? Hat kein Nachbar sie schreien hören? Hat sie nicht versucht, wegzurennen und Hilfe zu holen?«
    Eduardo gähnte. Er sah den Nebel, der hinter Paulo die Straße einhüllte, dachte, dass ihm allmählich kalt wurde und wie gerne er wieder ins warme Bett schlüpfen würde. Aber Paulo beharrte: »Ihre Hände waren voller Schnitte, weißt du noch?«
    Eduardo war sich nicht sicher, ob er das noch wusste.
    »Das muss passiert sein, als sie versucht hat, ihrem Mörder das Messer wegzunehmen, Eduardo. Sie hat um ihr Leben gekämpft. Ganz sicher. Jeder Mensch kämpft um sein Leben. Und der Zahnarzt wäre nicht stark genug gewesen, um sie zu überwältigen.«
    »Und wenn schon. Es ist nach Mitternacht, Paulo. Wir müssen morgen früh in die Schule. Nein, nicht morgen: heute.«
    »Der Zahnarzt hat sie nicht umgebracht. Er war’s nicht!«
    »Aber er hat es gestanden. Und damit basta.«
    »Ach ja? Das war’s? Dann erklär mir mal, warum er ihr die Brust abgeschnitten hat, Eduardo. Hm? Hm, Eduardo? Warum hat er sie abgeschnitten, Eduardo? Warum?«
    Sie schwiegen. In der Ferne war schwach und unregelmäßig eine Melodie aus einem Radio zu hören. Oder von einem Plattenspieler. Eine Baritonstimme:
    Que las rondas
    No son buenas …
    Que hacen daño,
    Que dan pena …
    Im Schein von Eduardos Taschenlampe blitzte der metallene Halbkreis um den Kopf der Heiligenfigur auf. Sie hielt ein Kruzifix und zwei Rosen an ihre Brust gedrückt, eine rote und eine weiße. Eine kunstvolle Schnitzarbeit aus dem achtzehnten Jahrhundert in zarten, verblassten Farben, das genaue Gegenstück zu der grellbunten Plastikfigur mit dem Gesicht einer Jahrmarktpuppe, die hinter ihr stand, Massenproduktion aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Rechts von ihr hielt die bemalte Gipsfigur eines jungen langhaarigen Mädchens einen Strauß weißer Lilien im Arm. Und noch mehrere andere Figuren standen auf dem ovalen Palisanderholztisch, der zu beiden Seiten von

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