Der letzte Tag der Unschuld
Silberleuchtern flankiert war, in denen hohe Kerzen steckten.
Paulos Blick glitt zu den Bildern in allen Größen und Formaten hinüber, die die Wand bedeckten. Sie zeigten Männer und Frauen in frommen Posen. Einige hatten Wundmale an Händen und Füßen, mehrere Heiligenscheine um die Köpfe. Einen von ihnen kannte Paulo: einen bärtigen, auf einen Stock gestützten Alten, der durch einen Fluss watete und ein lächelndes Kind mit goldenen Locken und blauen Augen auf den Schultern trug. Der gleiche Heilige baumelte bei einem Freund seines Vaters, einem Taxifahrer, vom Rückspiegel seines Wagens.
»Der heilige Christophorus«, sagte er und wies auf das Bild. »Er trägt das Jesuskind.«
»Sei leise«, mahnte Eduardo. »Wenn uns jemand hier erwischt, sind wir geliefert.«
Paulo hielt so viel Vorsicht für übertrieben. Er war sich sicher, dass niemand sie dabei beobachtet hatte, wie sie über die hintere Mauer geklettert und durchs Badezimmerfenster in die Wohnung eingestiegen waren. Im Morgengrauen waren die Straßen menschenleer. Und selbst wenn jemand am Haus des Zahnarztes vorbeikäme, würde er nicht hören können, was hinter den dicken Wänden gesprochen wurde. Andererseits hatte er seine Stimme ohnehin nicht mehr unter Kontrolle, seit der Stimmbruch sich bei ihm bemerkbar machte. Missbilligend schnalzte er mit der Zunge, doch Eduardo, der die Figuren musterte, beachtete ihn nicht.
»Ich hab noch nie so viele auf einem Haufen gesehen.«
»So viele was?«
»Heiligenfiguren. Männer und Frauen. Und so alte. Guck dir mal die hier an. Wie sorgfältig sie gemacht ist. Sieh nur die Nase, die Hände mit den Nägeln, alles bis ins Detail ausgearbeitet. Das Kruzifix steht für die Hingabe an Christus.«
Paulo wusste nicht, was Hingabe hieß.
»Das ist so was wie Liebe, nur noch stärker.«
Diese Antwort ergab für Paulo keinen Sinn.
»Wer ist das?«
»Santa Terezinha. Wer zu ihr betet, wird beim Eintritt ins Paradies mit Rosen überschüttet.«
Auch das ergab keinen Sinn, aber Paulo sagte nichts.
»Und die mit den langen Haaren?«
»Santa Maria Goretti. Die Lilien sind ein Zeichen ihrer Reinheit.«
»Woher weißt du das?«
»Das weiß doch jeder.«
»Ich nicht.«
»Jeder Katholik weiß das.«
»Meine Mutter war Katholikin. Mein Vater hat mit Religion nix am Hut. Niemand zwingt mich, zur Messe zu gehen.«
»Mich auch nicht. Ich gehe, weil ich will.«
»Du meinst, wenn dein Vater und deine Mutter sonntags in die Kirche gehen, kannst du zu Hause bleiben?«
»Ich gehe, weil ich gehen will.«
»Und ich gehe nicht, weil ich nicht gehen will.«
Eduardo beendete die Diskussion, indem er auf die Heilige mit den langen Haaren wies.
»Über die gibt es sogar einen Film.«
»Über welche?«
»Über die mit den Lilien. Die heilige Maria Goretti. Irgend so ein Kerl wollte etwas Unanständiges mit ihr machen, sie hat sich gewehrt, da hat er sie erstochen.«
»Das ist es also, was mit der Frau vom Zahnarzt passiert ist!«
»Aber war die nicht eine Nutte?«
»Ach so, ja, doch.«
»Und der Zahnarzt durfte mit ihr machen, was er wollte. Schließlich war er ihr Mann.«
»Aber er war’s nicht, er hat sie nicht umgebracht. Wollen wir das nicht gerade beweisen?«
»Doch.«
»Dann lass uns weitermachen. Was ist denn das da drüben?«
Im Kegel der Taschenlampe war am Ende des Raumes ein hohes Möbelstück zu sehen. Es hatte oben zwei Türen und unten eine Schublade. Sie öffneten die Türen. Eine knarrte. Der Lichtschein fuhr über dunkelgraue Jacketts, ein paar schwarze Westen und dazu passende Hosen, weiße Hemden, schwarze und marineblaue Krawatten, weiße Kittel mit den aufgestickten Initialen des Zahnarztes auf der Brusttasche. In der Schublade fanden sie Stapel von Unterhosen, Unterhemden und Taschentüchern, alle weiß. In einer Ecke lagen zusammengerollt schwarze Strümpfe.
»Nur Männersachen.«
»Nur Alte-Männer-Klamotten.«
»Nur Zahnarztklamotten.«
»Das ist sein Zimmer.«
»Ihr Zimmer, Paulo. Eheleute schlafen immer zusammen.«
»Aber sieh doch mal: Das ist ein Einzelbett.«
»Dann ist das wohl das Gästezimmer«, meinte Eduardo und betrachtete das Bild des gekreuzigten Jesus über dem Bett. »Reiche Leute haben so was. Das Schlafzimmer muss woanders sein.«
Sie verließen den Raum. Das Licht der Taschenlampe glitt durch den Flur bis zur Tür des Badezimmers, durch das sie hereingekommen waren. Weiter hinten lag ein bis zur Decke gekachelter kleiner Salon mit rot gefliestem Fußboden,
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