Der letzte Tag der Unschuld
Familien …«
»Der Bischof und der Bürgermeister haben gemeinsam am Priesterseminar studiert.« Sie senkte den Blick, blätterte wieder in den Papieren, die jetzt auf ihrem Schoß lagen, und fischte eines heraus. »Lassen Sie mich Ihnen einen anderen Absatz vorlesen. ›Zweifellos bringt der so verstandene Vergesellschaftungsprozess mancherlei Vorteile. So kann zahlreichen Rechtsansprüchen der Person Genüge geschehen, insbesondere solchen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Natur.‹«
Sie hielt inne.
»Sie scheinen verwundert.«
»Predigt Ihr Papst etwa die Errungenschaften des Sozialismus? Spricht er von Menschenrechten? Verstehe ich das richtig, Schwester? Wie war dieser Absatz über den Luxus, den Sie zuvor gelesen haben, Schwester?«
»›In einigen von diesen Ländern steht jedoch zu diesem Zustand äußersten Elends der Mehrzahl der Überfluss und hemmungslose Luxus weniger Reicher in schreiendem und beleidigendem Gegensatz.‹«
»Der Vatikan erkennt an, dass es der Mehrheit schlecht geht? Er kritisiert den Luxus und den Überfluss einiger weniger? Es fällt mir schwer zu glauben, dass so etwas aus der Feder eines Kirchenfürsten stammen soll.«
»Mehr als ein Kirchenfürst. Der Papst. Johannes XXIII . Angelo Roncalli. Ein Mann aus einfachen Verhältnissen. Extrem einfachen Verhältnissen.«
»Und warum hat der Bischof …?«
»Der Herr Bischof gehört zum … sagen wir, konservativsten Flügel der Heiligen Mutter Kirche.«
»Und da kam er hierher, um Ihnen …«
»Der Herr Bischof hat uns die neue, noch nicht veröffentlichte päpstliche Enzyklika gebracht, und Sie fragen sich, was ihn dazu bewogen hat.«
»Ja, denn immerhin scheint er nicht zu den …«
»… fortschrittlichen Kräften der Kirche zu gehören?«
»Genau.«
Schwester Maria Rosa hob die nun ungeordneten Blätter ein wenig an. Einige flatterten zu Boden. Ubiratan machte Anstalten aufzustehen und sie einzusammeln, doch sie hielt ihn mit einer Handbewegung zurück.
»Diese Seiten, Senhor Ubiratan, dienen dazu, mich an die Güte und Gnade zu erinnern, die die Kirche und die so genannte katholische Elite stets ausgezeichnet haben. Die das Überleben und die Ausbildung verlassener Kinder ermöglicht hat. Von Kindern wie mir. Wie Aparecida. Sie wissen doch, dass dieses Waisenhaus vom Großvater unseres Bürgermeisters gegründet wurde, nicht wahr? Das Waisenhaus für Jungen, in dem Renato aufwuchs, wurde ebenfalls durch Spenden dieses Großvaters ermöglicht. Ein frommer Mann, der die heilige Rita de Cássia verehrte, wie mir unser Herr Bischof erklärte. Er pflegte enge Beziehungen zu einem weiteren guten Katholiken, Kaiser Pedro II ., und später zu den Militärs, die die Republik ausriefen. Dank seiner Freundschaft zum Präsidenten Afonso Pena war er einer der ersten Senatoren dieser sogenannten ›Milchkaffeerepublik‹. Sein Sohn Diógenes trat in seine Fußstapfen und wurde ebenfalls Senator. Und ein enger Mitarbeiter von Getúlio Vargas, wie Sie ja bereits wissen.«
»Wenn das stimmt, was Sie sagen, stand die Familie Marques Torres schon lange im Zentrum der Macht.«
»Seit dem Zweiten Kaiserreich. Sogar vorher schon. Ja. Und später dann besonders während des Estado Novo. Ach, und noch etwas: Die weiterführende Schule dieser Stadt wurde von Senator Marques Torres noch zu Getúlios Lebzeiten Anfang der fünfziger Jahre gegründet. Ebenso wie die zur selben Zeit angelegte asphaltierte Landstraße in die Hauptstadt. Der Gemeinsinn der Familie reicht weit zurück, bis hin zum Bau des ersten Stromkraftwerks hier durch den Großvater unseres Bürgermeisters, der sich so gut mit dem Kaiser verstand. Dank dieses Kraftwerks konnten sich die Textilfabrik, eine Spitzenfabrik und eine Schraubenfabrik in dieser Gegend ansiedeln, was wiederum Hunderte von direkten und im Laufe der Zeit Tausende von indirekten Arbeitsplätzen geschaffen hat. Industrie und Arbeiter ihrerseits beförderten die lange politische Karriere von Senator Marques Torres und seine Unterstützung für Getúlio Vargas.«
Ubiratan zog aus seiner Jacketttasche eine Streichholzschachtel und daraus eine zerdrückte Zigarette hervor. Er zeigte sie der Nonne, wie um Erlaubnis bittend, rauchen zu dürfen. Sie ging zum Tisch, nahm einen Aschenbecher aus einer Schublade, gab ihn Ubiratan und setzte sich wieder.
»Die Geschichte des Fortschritts dieser Region ist aufs Engste mit der Geschichte der Familie Marques Torres verknüpft. Sogar die Ankunft der ersten
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