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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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sein. Meine Fragen bringen Sie in Verlegenheit.«
    »Nein. Doch. Ein wenig. Nein. Das ist es nicht. Es ist nur so, dass ..«
    »Ich bin nicht hier, um Sie zu verpetzen, wenn es das ist, was Sie …«
    »Das habe ich nicht gedacht. Das ist es nicht, was mir Kummer macht.«
    »Was ist es dann?«
    »Mir ist in letzter Zeit alles Mögliche wieder eingefallen … über mich.«
    »Alles Mögliche?«
    »Dinge, die ich getan habe.«
    »Die Sie getan haben?«
    »Früher. Dinge, die ich getan habe und die … die sich in nichts … von den Taten anderer unterscheiden. Anderer Männer. Zahlloser anderer Männer. Erinnerungen. Nicht nur quälende Erinnerungen, und ein Schmerz, der nie vergehen wird. Sondern auch die Erinnerung an vergangene Taten. Die bewirkt, dass ich mich vor mir selber schäme. Bis heute. Wie brutal ich oft war. Viel zu oft. Und feige. Und ich kann es nicht mehr ungeschehen machen. Weil ich es getan habe, weil ich diese Taten begangen habe. Ich wollte es nicht. Aber ich habe es getan. Sagen das nicht alle Verbrecher?«
    Ihre Antwort kam so prompt, dass er merkte, dass ihr das Thema Reue nicht unbekannt war.
    »Ich finde, man sollte nur an die Vergangenheit denken, wenn es einem hilft, es in der Gegenwart besser zu machen. Alles andere ist pure Nostalgie.«
    »Ich empfinde keine Nostalgie. Ich empfinde Scham. Mein Leben lang habe ich … habe ich mich für einen, wie es bei uns hieß, unermüdlichen Freiheitskämpfer gehalten. Ein Kämpfer für das Proletariat, die Elenden, die Hungernden, die Frauen, die Analphabeten … Die Unterdrückten. Alle Unterdrückten. Aber das war ich nicht. Ich habe eine Rolle gespielt. Sogar vor mir selbst. Besonders vor mir selbst. Dabei bin ich kein Freiheitskämpfer. Bin nie einer gewesen. Es gibt keine wirkliche Freiheit, wenn man die Freiheit und den Willen des anderen missachtet. Ich habe nie den Willen einer Frau geachtet. Ich wusste gar nicht, was das ist. Nicht einmal bei Helena. Ich habe sie nie respektiert. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, dass es das überhaupt gibt: den Willen einer Frau. Ich habe sie benutzt. Bitte entschuldigen Sie, dass ich mich Ihnen gegenüber so ausdrücke, Schwester, so … grob. Aber genau das habe ich immer getan. Ich habe sie benutzt. Ihre Körper. Wann und wie ich wollte. So wie es unzählige Männer mit … mit diesem Mädchen getan haben, das … Anita. Aparecida. Die so viele benutzt haben und die ermordet und verstümmelt wurde, ohne dass … ohne dass … irgendjemand sich darüber aufgeregt hätte. Ohne dass es jemanden empört hätte. Bis ich erkannt habe, was die Männer mit Anita gemacht haben … mit Aparecida … dachte ich … hatte ich mir nie überlegt, dass ich auch so ein … Es ist niederschmetternd, sich eingestehen zu müssen, dass man sein Leben lang eine Schmierenkomödie gespielt hat. Gestern ist mir das bewusst geworden. In meinem Alter. Ich habe erkannt, dass ich nicht viel anders bin als all die Schweinehunde, die ich immer verachtet und bekämpft habe.«
    Er senkte den Kopf. Sah seine eigenen Füße in Pantoffeln. Nicht einmal Schuhe hatte er heute Morgen angezogen.
    »Welche Figur ist das?« Die Nonne zeigte auf das Brett.
    »Ein Bauer.«
    »Und diese hier?«
    »Die Königin.«
    »Und die dort drüben?«
    »Der Läufer?«
    »Wie interessant: Königin, Läufer, Bauer … Was für Geschichten so ein Schachspiel erzählt.«
    »Ich würde es nicht Geschichten nennen.«
    »Das war nur so ein Gedankengang. Ich wollte schon immer Schachspielen lernen. Vielleicht können Sie es mir beibringen.«
    »Bestimmt.«
    »Aber nicht jetzt. Nicht hier. Vielleicht könnten Sie heute Nachmittag ins Waisenhaus kommen?«
    »Heute Nachmittag?«
    »Ja. Da können wir in Ruhe üben und plaudern. Sogar über jemanden, der mir heute einen Besuch abgestattet hat. Und der mir einiges über Sie berichtet hat.«
    »Jemand hat Sie besucht und Ihnen etwas über mich erzählt?«
    »Sie dürfen doch nachmittags hier heraus oder nicht?«
    »Ja. Aber um neun Uhr abends schließen die Nonnen die Eingangstür ab.«
    »Das ist mehr als genug Zeit«, sagte sie und stand auf.
    Er erhob sich ebenfalls.
    »Sie haben gesagt, jemand hätte Sie besucht …«
    »Darüber werden wir ganz bestimmt noch sprechen. Also bis bald, Senhor … Basílio.«
    »Bis bald.«
    Die Nonne suchte sich ihren Weg zwischen den alten Männern hindurch, als er rief: »Schwester!«
    Sie drehte sich um.
    »Ich weiß gar nicht, wie Sie heißen.«
    »Maria Rosa.

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