Der letzte Tag der Unschuld
Bewegung auszumachen. Die anderen Frauen spielten wahrscheinlich Karten, tratschten oder bedienten die wenigen nachmittäglichen Freier.
Er vernahm ein kratzendes Geräusch, das er im ersten Augenblick nicht einordnen konnte, und gleich darauf die Stimme einer Frau. Sie sang. Jemand hatte eine Platte auf einen Plattenteller gelegt. Sie klang zerkratzt. Und sie kam aus dem Herrenhaus, in dem im neunzehnten Jahrhundert ein portugiesischer Einwanderer, der durch den Import und Verkauf angolanischer Sklaven reich geworden war, mit seiner Familie gelebt hatte. Der Gesang schwoll an.
Vissi d’arte, vissi d’amore,
Non feci mai male ad anima viva …!
Con man furtiva …
Jetzt konnte er es deutlicher hören. Er erkannte die Arie einer Oper wieder, die irgendwo unter seinen Erinnerungen begraben lag. Der Gesang war von Geigen, Harfe und anderen Instrumenten begleitet, die er nicht identifizieren konnte.
Sempre con fè sincera.
La mia preghiera
Ai santi tabernacoli salì …
Er überquerte die Straße und stellte sich keine hundert Meter von dem Haus entfernt wieder hin. Die Fenster im Erdgeschoss waren geschlossen, die Scheiben schmutzig mit Ausnahme von zwei Fenstern neben der Eingangstür. Sie waren die einzigen, die Vorhänge hatten. Und von hierher kam die Musik.
Perchè, Signore, perchè
Me ne rimuneri così?
Er hatte diese Arie schon einmal gehört. Vielleicht im Radio der Schule. Vielleicht auf einer Schallplatte. Nicht im Theater. Er war nie in der Oper gewesen. Zwar hatte er ein paar Opernaufnahmen besessen, aber er hatte nie eine gesehen. Helena hatte Opern geliebt. Durch sie hatte er sie kennen gelernt. Sie hatten Pläne gemacht, eines Tages gemeinsam nach Rio de Janeiro zu fahren und den Gefangenenchor von Nabucco auf der Bühne zu sehen und zu hören. Helena liebte Verdi. Er lernte, ihn zu lieben. »Va pensiero« war so etwas wie eine Hymne für ihn geworden. Sie waren nie nach Rio de Janeiro gefahren. Er hatte nie einen Fuß ins Theatro Municipal gesetzt. Er hatte auch ein Album mit O Guarani und eines mit Mozartarien besessen, gesungen von Bidu Sayão, Helenas Lieblingsplatte, dazu eine andere Mozartplatte von einer deutschen Sopranistin, deren Nachnamen er sich nie hatte merken können, und noch zwei, drei andere, an die er sich nicht mehr genau erinnerte. Bei seinem Umzug ins Altersheim hatte er sie, wie so viele andere Dinge und Erinnerungsstücke, alle zurückgelassen.
Er überlegte, wie riskant es war, sich dem Bordell noch mehr zu nähern. Der Hang war verlassen. Nur weiter vorne in der Straße, nicht weit von ihm, stand ein schwarzer Wagen, in dem vielleicht jemand saß.
Diedì gioielli
Della Madonna al manto …
Das war keine Arie von Donizetti, dachte er. Auch keine von Verdi: Ihr fehlt der Pomp, die Großspurigkeit, die Verdis tragische Heldinnen stets umweht. Rossini war es auch nicht. Die Noten ließen die Leichtigkeit vermissen, die er mit Rossini verband. Hier wurde ein tiefer innerer Schmerz besungen, schloss er. Ein durchdringender und zugleich zarter Gesang. Weder Verdi noch Donizetti und auch nicht Rossini. Vielleicht Bellini? Die Arie hatte die tragische Wucht der Arien von Bellinifiguren. Aber nein. Sie war nicht so ernst. Weniger karg.
Nell’ora del dolore,
Perchè, perchè Signore,
Perchè me ne rimuneri cosí?
Jetzt stand er unter dem Fenster des Hotels. Hinter den Vorhängen konnte er einen mit weinrotem Samt verkleideten Salon erkennen. In einer Ecke stand eine einsame, blondgelockte Frau an einem tragbaren Plattenspieler. Ihre matronenhafte Gestalt war in einen Morgenrock gehüllt. Sie wandte sich um und verdrehte die Augen, die sich, stark geschminkt wie die einer Stummfilmdiva, von ihrem bleichen Gesicht abhoben. Die dunkel bemalten Lippen bewegten sich zu der Stimme, die die Nadel der schwarzen 33er-Schallplatte entlockte. Sie streckte die Arme aus. Die Stimme flehte vom Plattenspieler her:
Vedi,
Ecco, vedi,
Le man giunte io stendo a te!
Tosca! Natürlich: Es war Tosca, fiel ihm ein. Kein anderer als Puccini. Floria Tosca, die, bedrängt vom schurkischen Scarpia, den Himmel anfleht. Natürlich. Der Augenblick, in dem Floria Tosca entscheiden muss, ob sie der Wollust des Barons Scarpia nachgibt und so um den Preis ihrer Ehre den geliebten Cavaradossi rettet oder ob sie ihre Ehre bewahrt und damit Mario zum Tod durch Erschießen verdammt. Rettende Sünde oder tödliche Tugend. Handeln wie eine Prostituierte, doch getrieben von der reinsten Liebe.
Die
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