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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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»Senhor« und »Schwester« davor. Beide wären gerne ungezwungener miteinander umgegangen, aber es gelang ihnen nicht. Weil sie schüchtern waren, weil sie es nicht gewohnt waren, mit jemandem vom anderen Geschlecht allein im gleichen Raum zu sein, weil sie wussten, dass dies viel mehr war als ein reiner Höflichkeitsbesuch, weil sie spürten, dass jeder mehr über den anderen wusste, als er zugab, und sie mit dieser unfreiwilligen Vertrautheit nicht umgehen konnten.
    Sie deutete auf einen Sessel, er nahm Platz. Sie ging zu der Likörflasche, holte zwei Gläser, gab ihm eines davon, stellte ihr Glas auf den kleinen Tisch und setzte sich ihm gegenüber. Aber gleich darauf stand sie wieder auf, holte die Flasche und stellte sie neben sein Glas, neben dem ein Stapel Papiere lag.
    »Bedienen Sie sich, wann immer Sie möchten, Senhor Ubiratan.«
    Er nickte dankend.
    »Wir hatten heute Besuch von unserem Oberhirten, Senhor Ubiratan.«
    »Ubiratan. Das ›Senhor‹ können Sie weglassen.«
    Sie tat, als hätte sie seine Bitte nach mehr Ungezwungenheit überhört.
    »Der Herr Bischof hat uns heute sehr früh mit einem Besuch beehrt, Senhor Ubiratan.«
    »Sie müssen mich nicht …«
    »Wir waren mit unseren Waisenmädchen«, fuhr Schwester Maria Rosa fort, »gerade auf dem Weg zum Frühstück ins Refektorium, als uns gemeldet wurde, dass uns der Herr Bischof erwartet.«
    »Heute früh?«
    »Gleich am Morgen. Direkt nach dem ersten Gebet in der Kapelle. Hier in diesem Raum hat Dom Tadeu auf mich gewartet, in Begleitung eines Jungen. Eines Neffen. Ich glaube, der blonde Knabe, der ihn immer begleitet und ihn durch die Gegend kutschiert, ist sein Neffe.«
    Ihr Tonfall war frei von jeglicher Gehässigkeit, aber Ubiratan spürte, dass sie die Information über den ständigen Begleiter der Bischofs aus irgendeinem Grund besonders betonte. Warum, wusste er nicht.
    »Sobald ich hereinkam, hat der Junge den Raum verlassen. Ohne ein Wort.«
    Ubiratan trank und schenkte sich nach, während er darauf wartete, dass Schwester Maria Rosa weitersprach.
    »Abgesehen von der außerordentlichen Ehre eines Besuchs zu so früher Stunde, war der Bischof auch gekommen, um mir diese Papiere zu überreichen.« Sie zeigte auf den Stapel Matritzenabzüge neben der Likörflasche. »Möchten Sie mal einen Blick darauf werfen?«
    » Mater …«, versuchte er zu entziffern, was auf dem Deckblatt stand.
    » … et Magistra. Mater et Magistra. ›Mutter und Lehrmeisterin‹«, erklärte sie, während sie den Stapel suchend durchblätterte. »Mutter und Lehrmeisterin, das ist es, was die katholische Kirche unter unserem Heiligen Vater Johannes XXIII . sein sollte. Sie nimmt uns auf, beschützt uns und zeigt uns den Weg. Ich nehme an, Sie sind vertraut mit den von Johannes XXIII . vorgeschlagenen Ideen und Veränderungen.«
    »Nehmen Sie es mir nicht übel, aber ich habe nicht das geringste Interesse an dem, was der Vatikan hervorbringt. Mich empört bis heute, dass Pius XII . der Vernichtung der Juden, Zigeuner und Homosexuellen im Dritten Reich tatenlos zugesehen hat. Ich halte das für ebenso verbrecherisch wie …«
    »Ich rede nicht von Pius XII .«, unterbrach sie ihn, »sondern von seinem Nachfolger, Johannes XXIII .« Wieder überflog sie prüfend die Papiere. »Der neue Papst ist der Sohn armer Landarbeiter, also ganz anderer Herkunft als sein Vorgänger. Auch seine Ideen unterscheiden sich radikal von denen Pius’ XII . Die neue Enzyklika, Mater et Magistra , wurde vom neuen Papst herausgegeben und zeigt den Unterschied überdeutlich. Das heißt, sie wird vom neuen Papst herausgegeben werden und wird den Unterschied zeigen. Sie ist nämlich bisher ausschließlich in Kirchenkreisen bekannt. Ah, hier ist es ja! Darf ich Ihnen diesen Absatz vorlesen?«, fragte sie und fuhr dann fort, ohne seine Antwort abzuwarten: »Hier steht Folgendes: ›In einigen von diesen Ländern steht jedoch zu diesem Zustand äußersten Elends der Mehrzahl der Überfluss und hemmungslose Luxus weniger Reicher in schreiendem und beleidigendem Gegensatz.‹«
    Sie hob den Blick und sah Ubiratan an.
    »Kennen Sie unseren Bischof? Er stammt aus einer Familie von Großgrundbesitzern. Einer seiner Onkel war unter Getúlio Vargas Abgeordneter für diesen Bundesstaat und hat die Karriere von Doutor Diógenes entscheidend befördert.«
    »Doutor wer?«
    »Diógenes. Der Vater des derzeitigen Bürgermeisters unserer Stadt.«
    »Also ist die Verbindung zwischen den

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