Der letzte Tag der Unschuld
Schwester Maria Rosa.«
»Ein hübscher Name.«
»Das ist natürlich nicht mein Taufname. Sie wissen, dass wir einen Namen wählen können, wenn wir unser Gelübde ablegen, nicht wahr?«
Er nickte.
»Ich habe Rosa gewählt, weil die Rose die Blume der heiligen Teresinha ist. Und Maria ist natürlich der Name der Mutter Gottes.«
»Der Mutter Jesu«, rutschte ihm heraus, noch bevor er es bemerkte.
»Der Mutter Jesu«, bestätigte sie. »Und somit der Mutter Gottes.«
Diesmal hielt er sich zurück. Schwester Maria Rosa setzte sich wieder in Bewegung.
»Warten Sie!«
Die Nonne hielt an.
»Mein Name …«
Sie betrachtete ihn neugierig.
»Ich heiße Ubiratan.«
»Ich weiß. Bis bald, Senhor Ubiratan.«
»Bis bald, Schwester Maria Rosa.«
»Ach, und noch etwas.« Anscheinend war ihr noch etwas eingefallen. »Sie brauchen nicht in Soutane zu kommen.«
8
Mater et Magistra
Die Glocke läutete, die Stunde war vorbei. Die Französischlehrerin, die darauf bestand, Mademoiselle Célia genannt zu werden, ignorierte das schrille Geläut und die lärmende Unruhe der Schüler, die hastig Bücher, Hefte, Stifte, Radiergummis und Füllfederhalter zusammenrafften und in Ranzen und Taschen stopften, erpicht darauf, den Raum so schnell wie möglich zu verlassen. Ihre jungen Zuhörer mochten der Musikalität von Corneilles Versen gegenüber unempfänglich sein, doch Mademoiselle hatte nicht die Absicht, das Vorlesen von El Cid vorzeitig abzubrechen. Sie war bei Szene VIII des zweiten Akts angelangt, die sie immer wieder aufs Neue rührte: Soeben war der Vater Chimènes von Don Rodrigues getötet worden, dem Mann, den sie liebte. Mit ausgestrecktem Arm auf die Schüler weisend, so wie sie sich Don Gómez’ Tochter vor dem spanischen König vorstellte, fuhr sie fort: »… Je l’ai trouvé sans vie. Excusez ma douleur, Sire, la voix me manque à ce récit funeste. «
Sie schlug das dünne, blau eingebundene Buch zu, schloss die Augen und wischte sich eine Träne ab, bevor diese ihre Wange hinabrollen konnte.
»› Mes pleurs et mes soupirs vous diront mieux le reste .‹«
Sie öffnete die Augen wieder und drückte das Buch an ihre magere Brust.
»In der nächsten Stunde«, kündigte sie an, »werden wir folgende Szene durchnehmen: › Comment Chimène et Don Diégue cherchent d’abord à émouvoir le roi avant de présenter des arguments ‹. Und als Hausaufgabe verlange ich eine ordentliche Übersetzung dessen, was wir heute gelesen haben.«
Diejenigen Schüler, die Mäppchen aus echtem Leder besaßen – seltenes und untrügliches Kennzeichen der Kaufkraft der bessergestellten Kinder an dieser staatlichen Schule –, legten sie ostentativ auf ihre Pulte.
» Très bien, ihr könnt gehen«, sagte Mademoiselle , wandte ihnen den Rücken zu, nahm ihre Tasche, ihre Bücher und das Klassenbuch vom Tisch und ging ebenfalls hinaus.
Eduardo blieb mit gesenktem Kopf sitzen. Das Klassenzimmer leerte sich. Es dauerte nicht lange, da kam Paulo zurückgelaufen.
»Gehst du nicht nach Hause? Was ist los mit dir?«
Ohne den Kopf zu heben, setzte Eduardo zu einer Antwort an. Er wollte seinem Freund gerne sagen, wie sehr ihn die vielen unkontrollierbaren Ereignisse verwirrten, wollte ihn bitten, ihm zu helfen, die tote Dona Madalena und die Drohung des Schuldirektors zu verstehen, sie rauszuwerfen und damit ihre Zukunft zu gefährden, das Stöhnen der Mutter und das Keuchen des Vaters in der Nacht zuvor, sein Entsetzen über eine Armut, die unendlich viel schlimmer war als alles, was er sich bisher hatte vorstellen können oder in Büchern gelesen hatte. Aber er brachte nur heraus:
»Wir sitzen ganz schön in der Tinte.«
Er hob das Gesicht. Paulo sah nicht besorgter aus, als wenn ihr Team ein Tor kassiert hätte und noch dreißig Minuten zu spielen wären.
»Das kriegen wir schon hin«, sagte er.
»Du verstehst das nicht, Paulo! Die wollen uns fertigmachen!«
»Wer … die?«
»Na, eben sie, Paulo! Sie. Der Schuldirektor, der Fabrikbesitzer, der Bürgermeister, der … Sie! Sie!«
»Welche sie, Eduardo? Es war nur der Direktor, der uns angedroht hat, uns von der Schule zu werfen. Wir haben nichts Schlimmes getan. Wir haben uns nur mit Aparecidas Großmutter unterhalten.«
Noch einmal versuchte Eduardo mehr zu erklären, brachte aber nur heraus:
»Gehen wir. Meine Mutter wartet mit dem Mittagessen auf mich.«
Sie begrüßten einander freundlich, aber steif, redeten sich zwar mit Namen an, setzten jedoch
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