Der letzte Tag der Unschuld
bleiche Frau breitete die molligen Arme aus und schüttelte ihre Locken, an denen der weiße Haaransatz sichtbar war. Der Morgenrock klaffte auseinander und gab den Blick auf die üppigen, in ein Spitzenhemd gezwängten Fleischmassen der polnischen Puffmutter frei. Aber es war nicht die alte Puffmutter, die da stand.
Es war wieder die junge Prostituierte Hanna Wizoreck, die Anfang der zwanziger Jahre auf der Flucht vor dem Krieg, der Europa heimgesucht, ihr Dorf zerstört und ihre Familie ausgelöscht hatte, im Hafen von Rio de Janeiro gelandet war. Allein, mit einem gefälschten Pass in einem fremden Land, dessen Sprache sie nicht sprach und in dem es niemanden gab, an den sie sich hätte wenden können. Sie flehte um Mitleid und Erbarmen.
E merce d’un tuo detto
Vinta, aspetto …
Verzweifelt ließ sie die Arme sinken und wartete auf die zynische Entgegnung des Barons Scarpia, als eine breitschultrige Gestalt den Raum betrat, zum Plattenspieler ging und den Arm von der Platte hob. Die Musik brach ab.
Die Frau drehte sich um und schloss den Morgenrock. Sie betrachtete den Mann, sagte irgendetwas zu ihm, ging dann zu einem Kanapee und ließ sich darauf nieder. Auf einem Tisch neben dem Sofa lag eine silberne Zigarettenschachtel. Sie griff danach, nahm ein Mundstück aus Perlmutt und eine Zigarette heraus und zündete sie an.
Ubiratan sah noch eine Weile zu, wie Hanna Wizoreck und Bürgermeister Marques Torres heftig stritten. Dann ging er eilig hangabwärts davon.
Zuerst war das Pfeifen zu hören: eins-zwei, eins-zwei, eins-zwei. Dann stiegen hinter dem Hügel im Takt des immer schneller arbeitenden Dampfkessels weiße Rauchschwaden auf. Endlich sah man den Schornstein der alten Lok, die die vom jahrelangen Ruß geschwärzten, spärlich besetzten Waggons zog. Nur noch wenige Reisende nahmen für die Fahrt von Rio de Janeiro das Gerüttel auf Holzbänken in Kauf, seit sich zweimal täglich von einem modernen Busbahnhof aus Busse mit weichen Kippsitzen auf den Weg machten.
Auf der Landstraße, die neben den Gleisen herlief, traten zwei Jungen schweigend in die Pedale. Einer von ihnen lauschte auf das Schnaufen der Lokomotive, während seine Gedanken Funken sprühten: Irgendwann steige ich ein, irgendwann steige ich morgens früh in diesen Zug, aber in den, der in die entgegengesetzte Richtung fährt, und komme nie wieder zurück. Ich fahre da hin, wo auch Onkel Nelson hingefahren ist. Ich finde raus, wo er steckt, bitte ihn um Hilfe, und dann schickt er mir Geld für die Fahrkarte. Dann packe ich meine Koffer, ich hab ja nicht viel, das packe ich und haue ab. Verschwinde. Weit weg von den engen Straßen und den dunklen Bergen, von meinem Vater, meinem Bruder, dem Nebel und der Kälte. Ich fahre dahin, wo es warm ist, in die Stadt mit den Hochhäusern und den breiten Boulevards, die am Atlantik enden und nicht am Rio São Francisco oder am Amazonas. Ich hab’s satt, hier zu sein. Ich will nicht mein Leben lang Friseur oder Ladenbesitzer sein. Oder Weber. Oder Schweißer, Vorarbeiter, Arbeiter auf der Kautschukplantage, Mechaniker, Sekretär, Bäcker, Elektriker … oder Schlachter wie mein Vater. Ich studiere, und dann werde ich … Chemiker? Diplomat? Militär? Astronaut? Kernphysiker? Städteplaner? Archäologe? Onkel Nelson wird mir helfen, mich zurechtzufinden. Er hat mich zwar nie gesehen, aber er wird mich mögen. Ich sehe ihm ähnlich, behauptet mein Vater. Struppiges Haar, breite Nase, Segelohren. Und dunkle Haut. Wie Onkel Nelson und meine Großmutter.
Vor ihnen ballten sich dicke bleigraue Wolken. Vom Wind, der sie wie eine düstere Herde zusammentrieb, war am Boden noch nichts zu spüren. Nun begannen die schweren Herbsttage. Der scheinbar endlose Sommer war vorbei.
An den Ruinen des Landhauses der Fazenda Mello Freire angekommen, legte Paulo eine Pinkelpause ein. Er erinnerte sich, dass das Herrenhaus mit seinen dicken Holzsäulen selbst verlassen noch einen eindrucksvollen Anblick geboten hatte, bis es vor wenigen Jahren eingestürzt war. Einst stolzes Wahrzeichen für den Reichtum der einzigen Familie weit und breit, die es an Macht und Einfluss mit den Marques Torres hatte aufnehmen können, war dem Haus das gleiche Schicksal beschieden gewesen wie allen während der Glanzzeit der Kaffeeplantagen angehäuften Vermögen. Die Nachkommen der Mello Freires, heute Bankangestellte und kleine Beamte, hatten zusehen müssen, wie sich das Haus in einen Haufen bröckelnder Wände, modriger Balken,
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