Der letzte Tag der Unschuld
gebracht hatte. Er musste nur noch herausfinden, wo der Friedhof lag.
Sein Blick fiel auf eine Pfütze, aus der soeben etwas auftauchte, was aussah wie die Ecke eines Stücks Papier. Nun trieb es auf der Oberfläche. Er bückte sich und hob es auf. Es war ein Rechteck von der Größe einer Heftseite. Als das schmutzige Wasser allmählich ablief, erkannte er Dutzende kleiner Bilder. Es war ein Kontaktabzug. Er zeigte verschiedene Aufnahmen einer jungen blonden Frau, umringt von Männern, die ihr die verschiedensten Gegenstände in Vagina und Anus schoben.
Die Jungen radelten, so schnell sie konnten, ohne von der Mitte der asphaltierten Straße abzukommen, deren Rand der Regen in eine Schlammpiste verwandelt hatte. Sie wechselten kein Wort.
Mehr als einmal war Eduardo drauf und dran, Paulo zu fragen, ob er auch diesen Druck in der Brust spürte, ob er auch das Gefühl hatte, als wären seine Innereien ein einziger riesiger Klumpen, ob das Blut auch so heftig in seinen Schläfen pochte, dass sie zu zerspringen drohten. Er wollte reden, aber nicht nur sein trockener Mund hinderte ihn daran. Die Worte, die er suchte, flogen zu schnell vorbei, als dass er sie hätte einfangen können, trieben ziellos hin und her wie Ballons im wilden Wind.
Auch Paulo konnte sich nicht erklären, was er fühlte. Zusammenhanglose Bilder und Geräusche wirbelten durch seine Erinnerung: die Reispfanne auf der Feuerstelle und die Stimme des Schulleiters, du dreckiger Kaffer, bist schlimmer als dein Onkel, die abgeschnittene Brust, Regentropfen auf dem Dach, die Hitze, die die Hand seines Vaters in seinem Gesicht hinterließ, der Staub unter dem Tisch, Schwarzer, du hast ja keine Ahnung, Salami, Blut, Brot, Wiese, Asche, Chimène, El Cid, Tarzan, ich habe Angst, ich habe keine Angst, nein, ich habe keine Angst …
Atemlos, ungeachtet ihrer Erschöpfung, strampelten sie schwitzend mit aller Kraft. Sie wollten zurück in die Stadt. Sie brauchten Hilfe, um die vielen Ereignisse zu ordnen, die auf sie einstürmten und sie schwindlig machten. Vielleicht bemerkten sie deshalb das näherkommende Auto nicht. Oder jedenfalls nicht, bis es zu dicht herangekommen war. Eduardo wusste hinterher nicht mehr, ob er zuerst das Brummen des Motors gehört oder das schwarzglänzende Metall gesehen hatte, das auf sie zuschoss, ob er oder Paulo den Warnruf ausgestoßen hatte, und auch nicht mehr, wie es ihm gelungen war, das Fahrrad an den Straßenrand zu lenken. Aber er erinnerte sich sehr wohl daran, wie er über das Fahrrad flog und durch den Schlamm rollte, während er voller Entsetzen das Geräusch von Reifen hörte, die Metall auf dem Asphalt zerquetschten, und wie er dachte: Oh nein, Paulo, nicht Paulo, nein, nicht Paulo!
Der Friedhof erstreckte sich hangabwärts. Eine links vom Eingang verlaufende Steinmauer teilte ihn in zwei gleich große Hälften. Das ganze Gelände war von einem Zaun aus schwarzen, in vergoldete Spitzen auslaufenden Eisenstäben umgeben, und über dem bogenförmigen Eingang hing ein Bildnis der Jungfrau Maria, die, von Cherubimköpfen umrahmt, eine Schlange zertrat.
Rechts der Mauer lagen hinter einem Steinkreuz, das von den Wachsresten zerlaufener Kerzen umgeben war, rechteckige Erdgräber. Manche waren mit Zementplatten bedeckt oder mit Fliesen eingefasst, andere waren nichts weiter als mit Unkraut überwucherte Erdhügel. Das, was er suchte, dachte Ubiratan, befand sich ganz gewiss nicht auf dieser Seite.
Er musste nach links, zur anderen Seite hinüber, wo über die Mauer hinweg ein steinerner Engel zu sehen war, der zwischen zwei Metalltürmchen eine Grabstätte krönte, mit der Rechten ein Schwert zum Himmel reckend, während er mit der Linken den Mast einer zerfetzten Seidenfahne umarmte.
Das war sein Ziel.
Die Gräber auf dieser Seite waren größer, mit Marmor verkleidet, mit Büsten und Skulpturen, Inschriften in eisernen Lettern, Fotos, Vasen und Blumen geschmückt. Hier ruhten die sterblichen Überreste der Honoratioren der Stadt, die sich nicht einmal im Tod unter das gemeine Volk mischten.
Er ging direkt auf das Mausoleum mit dem Engel zu, das größte des ganzen Friedhofs, in der Gewissheit, dass er dort finden würde, was er suchte. Verwundert bemerkte er, dass die Fugen der schmutzigen Marmorplatten voller Schlamm waren und Unkraut in den Ritzen wucherte. Ganz offensichtlich hatte schon lange niemand mehr dieses neogotische Monument des Hochmuts besucht oder gar gereinigt.
In der Inschrift an einer Seitenwand
Weitere Kostenlose Bücher