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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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suchte er nach einem Hinweis. Dort stand: Gloria Virtutem Tamquam Umbra Sequitur. Und darunter: In Honoris Amarílio Rodrigues de Mello Freire. Er hatte sich geirrt: Es war nicht hier. Dies war nicht das richtige Grab.
    Suchend blickte er sich um. Nur ein einziges Grab am Ende des Mittelgangs konnte es an Größe mit dem Grab mit dem bewaffneten Engel aufnehmen.
    Er ging dorthin.
    Verglichen mit dem Grab der Familie Mello Freire wirkte dieses Grab in Form einer Kolonialkapelle beinahe schlicht: weiß gekalkt, ohne Statuen, Bilder oder Plaketten. An der Vorderseite befand sich zwischen zwei ovalen, bunt verglasten Fenstern ein Gittertor, in dessen Mitte ein sechseckiger Schild mit zwei gekreuzten Kaffeezweigen über einem offenen Buch und den Buchstaben M und T prangte.
    Er drückte gegen das Tor. Vergebens. Dann drückte er noch einmal, diesmal stärker. Das Tor war verriegelt.
    Er ging zurück in den rechten Teil des Friedhofs, direkt zu den verlassenen Grabhügeln. Die Nummernschilder waren mit Draht an den Kreuzen befestigt. Er suchte den aus, der ihm am leichtesten zu entfernen schien.
    Dann kehrte er zum Mausoleum der Marques Torres zurück.
    Besorgt rappelte er sich auf, schlammbedeckt und halb betäubt. Das Erste, was er sah, als der schwarze Fleck vor seinen Augen endlich Form annahm, war das zerbeulte Fahrrad auf dem Asphalt. Das in der Luft hängende Hinterrad drehte sich noch. Auf der anderen Straßenseite lag Paulo, zusammengekrümmt, reglos, das Gesicht in einer lehmbraunen Pfütze.
    Er rannte zu ihm, kniete neben ihm nieder, hob sein Gesicht an. Paulos Augen waren geschlossen. Er drehte ihn um und schüttelte ihn, rief seinen Namen. Die Straße lag verlassen, niemand kam vorbei, den er um Hilfe hätte bitten können.
    Paulo hustete. Immer noch von Eduardo gehalten, spuckte er ein-, zweimal aus, dann richtete er sich langsam, auf beide Hände gestützt, auf. Nun war er auf allen vieren. Er hustete. Spuckte noch einmal. Schließlich setzte er sich auf seine Hacken und bemühte sich vergeblich, sein Gesicht mit den Händen sauber zu wischen. Eduardo suchte in seiner hinteren Hosentasche nach dem Taschentuch, das er immer dabeihatte, brachte aber nur einen schmutzigen, tropfenden Lappen zutage und steckte ihn wieder ein. Paulo rieb sich die Augen und zwinkerte ein paar Mal. Er sah nichts. Er versuchte aufzustehen, verlor das Gleichgewicht, plumpste auf den Hintern.
    »Tut dir was weh? Hast du dir was gebrochen?«
    Paulo schüttelte verneinend, aber nicht besonders überzeugt den Kopf. Seine ganze rechte Seite, mit der er zuerst aufgeprallt war, schmerzte. Nichts Ernsthaftes, vermutete er aus Erfahrung; schließlich hatte er sich schon einmal den linken Arm und einmal den Knöchel gebrochen. Immer noch benommen, sah er Eduardo ins Gesicht. Es war voller Schlamm. Er sah aus wie ein Buschmann von einem mit Tarzan verfeindeten Stamm. Paulo musste lachen. Aber als er sah, was hinter seinem Freund lag, stöhnte er auf.
    »Was ist, Paulo? Wo tut’s weh?«
    Verzweifelt zeigte Paulo auf das zerbeulte Fahrrad.
    »Heute schlägt mein Vater mich tot.«
    Ein dumpfes Klicken bewies ihm, dass er das Schloss geknackt hatte. Er steckte den Draht in die Jackentasche, schob die Gittertür auf und betrat das große Grabmal der Familie Marques Torres.
    Die tiefstehende Nachmittagssonne schien durch die farbigen Glasscheiben, malte bunte Flecke auf Schubfächer und Nischen, von denen einige offen waren, und ließ die Bronzebuchstaben an der hinteren Wand aufleuchten, der einzigen, die mit Marmor verkleidet war. Ganz oben standen in gotischer Schrift zwei Sätze: »Hier ruhen in Gottes Hand der Auferstehung entgegen Baron Olivério Santanna Marques Torres, seine geliebte Gattin Maria Beatriz de Castro Marques Torres und alle ihre Nachkommen« und der lateinische Satz » Os ex ossibus meus et caro carne mea «. Knochen von meinen Knochen, Fleisch von meinem Fleisch.
    Dann folgte eine lange Liste von Namen und Daten, die im Jahr 1811 begann; viele der Vornamen klangen archaisch, und die meisten der Titel waren mit dem brasilianischen Kaiserreich untergegangen. Er überflog die Liste, bis er bei Diógenes Marques Torres angekommen war. Am Anfang Name und Titel des Senators in Großbuchstaben; darunter die Daten 1882–1955. Nach ihm kam nichts mehr. Darüber sah er zwei dicht nebeneinander stehende Namen: Vicente Luiz Marques Torres – 1947 und André Luiz Marques Torres – 1947–1949. Zu seiner Verwunderung war nach 1940 kein

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