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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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eingestürzter Dächer, Glasscherben und eine Heimstatt für Ratten verwandelte. Eine von ihnen, ein fettes Exemplar mit staubigem Fell, kam über eine zerborstene Eingangstür gekrabbelt und musterte den pinkelnden Jungen angriffslustig, huschte aber davon, als Paulo einen Stein nach ihr warf, der ihren spitzen Kopf nur um Haaresbreite verfehlte.
    Eduardo war weitergefahren, aber Paulo hatte ihn bald eingeholt. Keiner von beiden bemerkte, wie still es zwischen ihnen war, denn jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.
    Eduardos Gedanken kreisten um eine neu entdeckte Furcht: Was, wenn er keine Zukunft hatte? Die Zukunft, die ihm bis zum heutigen Gespräch im Zimmer des Schuldirektors sicher erschienen war? Was, so dachte er, wenn es in Brasilien, diesem neuen Brasilien mit seinen frischgeschaffenen Fabriken, Straßen und Arbeitsplätzen, in diesem neuen demokratischen Brasilien, von dem ihre Lehrer ihnen immer erzählten, in dem wir, das Volk, in freien Wahlen entscheiden, wer uns regieren soll, wenn es nun also in diesem Brasilien Mächte gab, Kräfte, von denen er nicht wusste, wer oder was sie waren noch wo sie sich verbargen, wenn es diese Kräfte gab, diese Macht, die über sein Schicksal verfügen könnte, ohne dass er etwas dagegen unternehmen konnte? Die unwiderruflich über sein Leben entschied? Wie an dem Tag, an dem sie Aparecida aus dem Waisenhaus geholt und mit dem Zahnarzt verheiratet hatten?
    Nun waren sie auf dem Pfad und mussten noch fast zehn Minuten weiterradeln, bis sie die Absperrung sahen. Voller Vorfreude auf den See traten sie in die Pedale, mussten aber plötzlich anhalten. Der Waldweg, auf dem sie sonst immer zum See hinuntergelangt waren, war durch neu gezogene Reihen Stacheldraht versperrt, an dem ein handgeschriebenes Schild hing: Privatbesitz. Betreten verboten.
    Paulo zog sein Hemd aus, band damit zwei Drähte zusammen, bückte sich und kroch durch die so entstandene Lücke. Eduardo schob die Räder unter dem Draht durch, dann hielt Paulo ihm die Drähte auseinander, und schon waren sie im Schatten der Bäume. Die Reifen ihrer Räder machten auf dem trockenen Laub und den fauligen grauen Mangos ein dumpfes Geräusch. Sie wechselten kein Wort, bis ein sengender Geruch an Eduardos Nase drang.
    »Riechst du das?«, fragte er beunruhigt.
    »Was?«
    »Es stinkt. Riechst du das nicht?«
    Sie kamen in den Bambushain. Normalerweise war es in dem grünen Tunnel angenehm kühl, doch nun lag ein beißender Gestank in der Luft. Ascheflocken umwehten sie und wurden immer mehr, je weiter sie kamen. Dann erkannten sie den Geruch. Sie ließen die Räder fallen und rannten auf das Ende des Tunnels zu, wo das blaue Glitzern, das sie sonst erwartete, nicht zu sehen war.
    Im Freien angekommen, hielten sie entsetzt an.
    Rund um den See, vom Bambushain bis zur Zuckerrohrplantage, vom Dickicht zu ihrer Rechten bis zum Mangohain, der sich links erstreckte, war von dem, was einmal ein grünes Gewirr aus Gras, Büschen, Sprösslingen und Wildblumen gewesen war, nur noch ein rauchender, schwarzer, zerstörter Kreis übrig.
    Ein Feuer hatte das Paradies, das sie gekannt hatten, zerstört.
    Der Polizist stellte den schweren Vergrößerungsapparat auf die Ladefläche des Jeeps, neben die Schalen mit dem Entwickler, und setzte sich hinter das Steuer. Aus der Eingangstür des Zahnarzthauses kam ein weiterer Polizist heraus, der sich mit einer riesigen Truhe abmühte, die zu groß für seine kurzen Arme war. Als er sie schwungvoll auf die Ladefläche hieven wollte, geriet er ins Schwanken, die Holztruhe rutschte ab, fiel herunter, und ein Teil ihres Inhalts ergoss sich aus dem aufgeklappten Deckel über den Bürgersteig und die Straße. Der andere Polizist sprang sofort aus dem Wagen und half seinem Kollegen, Papiere, Fotos und Röntgenaufnahmen einzusammeln. Einer der beiden fluchte. Nachdem sie die Truhe wieder geschlossen und auf dem Wagen verladen hatten, wischten sie sich die Hände an einem Tuch ab, stiegen ein und fuhren davon. Kurz darauf gaben die Nachbarn ihre Beobachtungsposten an Türen und Fenstern auf und kehrten zu den Alltagsgeschäften des Nachmittags zurück.
    Erst jetzt trat Ubiratan näher. Eigentlich hatte er vorgehabt, das Haus noch einmal zu durchsuchen, aber als er schon fast an der Tür war, bemerkte er, dass ein dritter Polizist als Wachmann zurückgeblieben war. Also ging er weiter. Dann würde er eben den Friedhof aufsuchen und die Spur weiterverfolgen, auf die Schwester Maria Rosa ihn

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