Der letzte Tag der Unschuld
Bruder?«
Ubiratan wurde bleich. Diese Reaktion überraschte Hanna Wizoreck.
»Sie wussten doch, dass der Bürgermeister und Anita Geschwister waren, oder etwa nicht?«
»Ich …«, stammelte er. »Ich habe vermutet, dass sie irgendwie miteinander verwandt sein könnten. Aber …«
»Tatsächlich waren sie Halbgeschwister. Sie hatten denselben Vater.«
»Der Senator …«
»Diógenes. Senator Diógenes hat eine Küchenhilfe aus dem Herrenhaus der Fazenda geschwängert. Ich weiß nicht, wie sie hieß.«
»Madalena.«
»Er mochte junge Mädchen. Er genoss es, für die jungen Mädchen auf der Fazenda der erste Mann zu sein. Le droit du seigneur , verstehen Sie?«
»Madalena wurde von dem Alten vergewaltigt.«
»Damals war er noch kein alter Mann. Und er war auch nicht gewalttätig. Grob, das ja. Aber er hat sie nie geschlagen oder misshandelt. Er hatte einen gewaltigen Appetit auf Frauen, so nannte man das damals, als ich ihn kennen lernte. Das war kurz nach meiner Ankunft in Brasilien. Er war ein sehr attraktiver Mann. Volle Lippen wie ein Indio. Große grüne Augen. Ein breites Kreuz. Und er war schwer. Und ein bisschen grob, ja. Aber ausgesprochen männlich. Ein unbezähmbares Tier. Vor allem bei den jungen Dingern. Sie sind ganz rot. Ist Ihnen nicht wohl?«
»Das geht schon wieder vorüber.«
»Möchten Sie eine Zigarette?«
»Nein, nein. Nein danke.«
»Als Adriano Anita aus dem Waisenhaus holte …«
»Adriano?«
»Der Bürgermeister. Adriano Marques Torres. Als Adriano Anita aus dem Waisenhaus holte und sie Doktor Andrade, dem Zahnarzt, brachte, dachte er, dass sie nichts weiter sei als noch so ein Kind von der Fazenda. Eines von den vielen, die in dieses Waisenhaus gesteckt wurden. Er wusste nicht, dass Anita seine Nichte war. «
»Sie sagten doch, sie sei seine Schwester gewesen.«
»Diógenes, Senator Diógenes … Wissen Sie eigentlich, was der Senator für diese Stadt getan hat? Wissen Sie, dass er es war oder seine Familie, die das Waisenhaus gegründet hat, die Krankenstation, die …«
»Ich weiß«, unterbrach Ubiratan sie. »In dieser Stadt ist die Macht der Familie Marques Torres nicht zu übersehen. Aber Sie haben mir doch gerade eben erst erzählt, dass Aparecida und der Bürgermeister Geschwister sind.«
»Halbgeschwister. Anita war die Tochter einer Mestizin.«
»Elza. Sie hat Anita mit zwölf bekommen, das weiß ich.«
»Diese Mestizin, diese Elza, war die Tochter von Senator Marques Torres und der Küchenhilfe aus dem Herrenhaus.«
»Madalena.«
»Die Namen kenne ich nicht. Aber das war die Blutsverwandtschaft zwischen Anita und dem Bürgermeister.«
»Also war Aparecida die Nichte des Bürgermeisters, nicht seine Schwester.«
»Mit achtundfünfzig entflammte der Senator noch einmal für eine hübsche Mulattin von der Fazenda. So hat er es mir erzählt. Er wusste nicht, wer sie war. Das Mädchen hat sich gewehrt, da hat er sie gewaltsam genommen.«
Ubiratan spürte, wie ihm der kalte Schweiß über die Stirn lief.
»Neun Monate später, als diese kleine Mulattin oder Mestizin, diese Elza, wie Sie sie nennen, ein hellhäutiges Mädchen zur Welt brachte, das die gleichen grünen Augen hatte wie der Senator, hat man ihr das Kind weggenommen und ins Waisenhaus gebracht. Sind Sie sicher, dass Sie keine Zigarette wollen? Ein Glas Wasser?«
»Eine Zigarette … Ja. Gerne.«
Hanna nahm zwei Zigaretten aus dem Päckchen, steckte sie in den Mund und zündete beide mit der geheuchelten Vertrautheit eines Liebespaares gleichzeitig an. Dann hielt sie ihm eine hin. Ihr Lippenstift war darauf. Ubiratan nahm sie und hielt sie zwischen seinen Fingern, ohne an ihr zu ziehen.
»Anita war die Schwester und die Nichte des Bürgermeisters. Tochter und Enkelin von Senator Marques Torres. Wollen Sie wirklich kein Glas Wasser? Un cognac ? Un petit liqueur ?«
Er winkte schroff ab.
»Sie werden von Minute zu Minute blasser.«
»Das ist nichts. Gar nichts. Das geht gleich wieder vorüber. Also sind Elzas Kinder … Also ist Anita … Oder besser gesagt, Aparecida. Aparecida und Renato sind Geschwister des Bürgermeisters.«
»Nein. Aparecida war die Schwester des Bürgermeisters. Aber der Junge ist nicht sein Bruder.«
»Renato ist nicht …«
»Genau der. Den meine ich. Renato. Nein, ist er nicht.«
»Renato ist nicht der Bruder des Bürgermeisters?«
»Er ist sein Sohn.«
Ubiratan erinnerte sich an das Geräusch von tropfendem Wasser in einem leeren Gang. Ausgeschaltete
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