Der letzte Tag der Unschuld
sie sich im Sessel zurück und schlug die Beine mit den dicken Knöcheln übereinander, die in dunklen Nylonstrümpfen steckten, um die zahllosen Krampfadern zu verbergen.
» Qu’est-ce que vous voulez de moi? «
»Bereuen Sie nicht, was Sie Aparecida angetan haben?«
» Monsieur , das, was Anita in acht Jahren zugestoßen ist, habe ich in nur gut drei Monaten durchlebt. Von der Nacht an, in der ich aus meinem Dorf in Polen geflohen bin, bis zu dem Nachmittag, an dem ich mich im Hafen von Marseille nach Brasilien einschiffte, hatte ich mehr Männer als die meisten Frauen in ihrem ganzen Leben. Slowaken, Litauer, Polen, Ungarn, Deutsche, Türken, Australier, Kongolesen, Tunesier, Griechen, Franzosen, Kanadier, Amerikaner, Engländer, Iren, Russen, Marokkaner, Spanier, Senegalesen, Italiener, Jugoslawen, Äthiopier, Ägypter, Transjordanier und sogar einen Orientalen, dessen Nationalität ich nie erfahren habe. Ich wollte essen, und ich wollte einen Reisepass nach Amerika. Irgendwo in Amerika. Deshalb war es mir egal, was ich mit meinem Körper machte. Was die Männer mit ihm machten. Ich war überzeugt, dass ich, einmal in Amerika angekommen, wieder rein sein würde wie das junge Mädchen, das ich in Jedwabne gewesen war.«
»In Jeb…?«
»Jedwabne. Mein Dorf.«
Sie nahm sich eine neue Zigarette, steckte sie in das Mundstück, zündete sie an und tat einen langen Zug.
»Als Sie in Brasilien ankamen, haben Sie Mitleid und Hilfe erfahren. Aparecida hingegen fand ringsum nur Gleichgültigkeit.«
»Kaum dass ich in Rio de Janeiro von Bord gegangen war, brachte mich diese Schutzgesellschaft, von der Sie reden, direkt in ein Frauenhaus, eine Straße von der Praça Onze entfernt. Diesen Platz gibt es nicht mehr. Er wurde abgerissen, ebenso das Haus. Dort gab es noch andere Mädchen wie mich. Sie kamen auch aus Europa. Und sie waren auch vor Hunger und Krieg geflohen. Ein echtes Melodram, Monsieur. Aber warum erzähle ich Ihnen diesen ganzen Schwachsinn eigentlich?«
»Sie wollten mir erzählen, warum Sie Anita umgebracht haben.«
Sie lachte, laut, lang, falsch und theatralisch.
» Vous êtes vraiment fou. Man stelle sich nur vor, quelle folie, dass Sie tatsächlich annehmen, Anita hätte von hier fliehen und irgendwo anders ein neues Leben beginnen wollen. Wie naiv. Sie sind wirklich ein Dummkopf. Anita, die wieder von vorne anfängt. Und dabei noch Geheimnisse mitnimmt, die nicht ans Tageslicht kommen dürften. Was für eine Komödie. Glauben Sie allen Ernstes, für Frauen wie Anita und mich würde es irgendeinen Unterschied machen, wenn wir woanders leben?«
»Sie war jung. Sie hätte von vorne anfangen können.«
»Was von vorne anfangen?«
»Alles. Ihr Leben. Ein neues Leben.«
»Ein neues Leben? Mit welchen Fertigkeiten? Waschen, bügeln, sticken, nähen und die Beine breit machen?«
»Wenn man vierundzwanzig ist, ist alles möglich.«
»So was kann auch nur ein alter Mann glauben. Ich versichere Ihnen: Für Anita gab es mit vierundzwanzig keinen Neuanfang. So wie es für mich keinen Neuanfang gab, als ich mich mit siebzehn in Marseille einschiffte. Nur dass ich das damals noch nicht wusste.«
Sie schwieg und drückte die Zigarette aus.
»Und warum haben Sie sie dann umgebracht?«
»Machen Sie sich nicht lächerlich. Natürlich habe ich sie nicht umgebracht. Warum hätte ich das tun sollen?«
»Aus Neid.«
»Neid worauf? Auf ihre verzweifelten Bemühungen, so zu tun, als hätte sie eine andere Hautfarbe? Darauf, dass man sie mit einem weibischen Alten verheiratet hatte? Aus Neid darauf, dass sie nicht mit den Nachbarn sprechen, keine Verwandten besuchen und nicht einmal allein das Haus verlassen durfte? Aus Neid darauf, dass sie als Frau für die Männer herhalten musste, die ihr Ehemann gerne gehabt hätte, wenn er nicht gefürchtet hätte, dass das Sünde sei?«
»Aus Neid auf … auf …« Ubiratan wusste nicht, wie er den Satz beenden sollte.
»Aus Neid darauf, dass meine Vagina, mein Mund, meine Schenkel, mein Anus regelmäßig für die alten Schulfreunde meines Mannes herhalten mussten? Dass ich dabei fotografiert wurde, wie sie Gegenstände in meine Körperöffnungen einführten? Wie sie auf mich pissten, auf mich schissen, ihr Sperma auf mir verspritzten, während ich gefesselt und geknebelt war? Darauf soll ich neidisch gewesen sein? Neidisch darauf, dass mein Mann masturbierte, während mich zwei Männer, manchmal auch vier, fünf oder sechs nacheinander bestiegen? Sogar der eigene
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