Der letzte Tag: Roman (German Edition)
anschließen.
Und ab und zu kamen Leute vorbei und fragten nach dem Weg. Weil sie von der Mine und der Kommune da unten gehört hatten. Eine Weile kamen regelmäßig Autos und Busse. Damals sagte mein Vater, die seien alle auf der Suche nach etwas. Wollten was Aufregendes erleben. Andere waren ausgerissen, Sie wissen schon, weil sie mit ihren Eltern nicht klarkamen. So was halt.
Er erzählte uns, dass er manchmal Leute vom Tempel in der Wüste auflas. Damals veranstaltete er Reitausflüge für Leute aus der Stadt durch die Foothills und die Laguna Mountains. Das war seine einzige Arbeit, und wir hatten ja genug Pferde für solche Unternehmungen. Und dabei trafen sie dann immer wieder auf diese Leute vom Tempel, die in ihren Kutten herumliefen. Manchmal waren sie auch nackt. Auch die Mädchen. Sie hatten immer Hunde bei sich. Die sahen aus wie Wölfe. Schäferhunde, Huskys, manche waren ihnen zugelaufen.
Mein Vater fand diese Tempelleute ziemlich eigenartig. Sie waren immer sehr höflich. Richtig freundlich. Nur manchmal fingen sie an zu predigen und konnten nicht mehr aufhören.«
»Hat er Ihnen gesagt, wovon sie dann sprachen?«
Emilio lachte. »Mein Vater nannte das Hippie-Blödsinn. Sie sagten ihm, sie hätten die Welt bereits verlassen. Und dass die Welt sowieso bald untergehen würde. Solche Sachen. Überall in der Welt ginge es nur ums Ego. Krieg und Armut und Rassismus und Gewalt. Sie behaupteten, die letzten Tage stünden uns bevor. Die Zeichen dafür könnte man überall erkennen. Vietnam. Aufstände. Die Atombombe. Sie behaupteten, sie seien hierhergekommen, um alles, was sie gelernt hatten, zu vergessen. Sie wollten ihre Erziehung, ihre Familie, ihre Persönlichkeit und ihre Verantwortung loswerden. Sich von den Zwängen der Gesellschaft frei machen. Alles vergessen, was ihnen beigebracht
worden war. Sie sagten, sie hätten nun eine neue Familie, eine neue Gesellschaft, die sie mit allem versorgte, was sie brauchten, nachdem sie sich von dem befreit hatten, was sie nicht benötigten. Jeder Mensch sei ein Gott. Sogar mein Vater, der überhaupt nicht besonders religiös war. Er lachte über das, was sie ihm erzählten. Sie suchten nach Gott in sich selbst, damit sie selbst göttlich werden konnten. Sie nannten sich untereinander Bruder oder Schwester irgendwas. Sagten, sie alle seien Kinder. Sagten, sie seien Tiere. Behaupteten, sie würden zu Engeln werden. Ziemlich verrückt. Sie nahmen ja auch ständig Drogen. Mein Vater dachte, sie wären immer betrunken. Er merkte es an ihren eigenartigen Augen, wenn sie high waren. Sie hatten diesen intensiven Blick, verstehen Sie. Und redeten verrücktes Zeug. Aber das waren nur die Drogen. Das wissen wir jetzt. Das haben wir von der Polizei und aus den Zeitungen erfahren.
Als ich dann älter wurde und darüber nachdachte, kam mir manches davon ziemlich cool vor. Ich fand die Geschichten von meinem Vater spannend. Trotz allem, was passiert war. Manchmal kampierten die Tempelleute in den Bergen, saßen am Lagerfeuer und sangen und redeten. Viele hübsche Mädchen, sagte mein Vater immer. Oder sie saßen einfach bloß da und glotzten in die Luft, irgendwo auf den Hügeln. Meditierten. Aber das war nur am Anfang so. Vor den Morden wurde alles anders.«
»Wie kam es denn dazu? Hat Ihr Vater etwas Genaueres darüber gesagt, was sich geändert hatte?«
»Das waren verschiedene Sachen. Zum einen kamen die jungen Leute nicht mehr zu uns, um sich mit den Pferden zu beschäftigen und uns bei der Arbeit zu helfen. Und auch wenn er in die Stadt ging, sah er sie dort nicht mehr. Vorher hatten sie immer ihre Zeitschriften und Bücher verkauft. In allen Städten und Dörfern der Umgebung erinnern sich noch sehr viele Menschen an die Tempelleute in ihren komischen Kutten. Die Leute aus der Generation meines Vaters.
Die Menschen haben den Hippies auch zu essen gegeben. Weil die Sachen aus den Mülltonnen hinter den Märkten und Läden holten und in ihren Schulbus und den VW-Transporter packten, um sie mitzunehmen. Manchen taten die jungen Frauen leid. Einige Hippie-Mädchen hatten ja Babys bei sich. Und sie aßen Müll. Obwohl Schwester Katherine so viel Geld hatte, mussten ihre Anhänger Müll essen.
Nach zwei Jahren ging es mit der Sekte bergab. Das muss so 1974 gewesen sein. Ab da änderte sich alles. Oder spätestens 1975. Mein Vater konnte nicht sehr gut schreiben, deshalb hat er sich nie Notizen gemacht. Manchmal traf er in den Bergen auf sie, wenn er eine Exkursion
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