Der letzte Tag: Roman (German Edition)
Unkraut
überwucherte Müllsäcke. Seine Wohnung war die einzige mit einem Namensschild neben dem schmierigen Klingelknopf, was vermuten ließ, dass er der einzige Bewohner dieses heruntergekommenen Gebäudes in einem vergessenen Winkel Süd-Londons war.
Die Fenster im Erdgeschoss waren mit Decken verhängt, die jemand von innen gegen die Rahmen genagelt hatte. Der einst berühmte Regisseur bekannter Trash-TV-Dokus aus den Neunzigern, der die besonders gruseligen Effekte gern gefälscht hatte, schien eine ziemlich harte Landung hingelegt zu haben. Pech . Aber warum hatte Max so einen inkompetenten Scharlatan engagiert? Weil der produzierte Film niemals gezeigt werden sollte. Malcolm Gonal war stur, skrupellos, unmoralisch, gierig und pleite. Er würde alles tun, um irgendwelche sensationellen Geheimnisse einer berüchtigten Sekte zu publizieren, wenn es sein musste direkt auf DVD. Mord, Körperverletzung, Vergewaltigung, Perversion, Kindesmissbrauch, Betrug, Entführung – schon allein beim Gedanken daran musste Gonal doch einer abgehen. Er hatte Allegra Films in den Bankrott getrieben, weil er von der Church of England wegen Verleumdung und übler Nachrede verklagt worden war, nachdem er behauptet hatte, schwarze Messen seien dort an der Tagesordnung. Das hatte seine Karriere im kommerziellen Fernsehen beendet.
Lass die Achtziger hinter dir, Max! Kyle war verstimmt. Er wusste, dass er als Regisseur nur zweite Wahl war, aber zweite Wahl hinter Gonal! Und jetzt, nachdem ihm klar war, dass weder eine Kinoverwertung noch eine Sendung im Fernsehen geplant war, fragte er sich, was Max mit dieser Dokumentation eigentlich erreichen wollte, außer einer Privatvorführung in seiner sicheren, hell erleuchteten Wohnung in Marylebone.
Kyle trat einige Schritte zurück und blickte die verblichene Ziegelsteinfassade des Gebäudes hinauf. Und sah, wie sich im obersten Stockwerk ein Vorhang vor dem größten, der Straße
zugewandten Fenster bewegte. Ganz kurz war ein rundes, bleiches Gesicht im Spalt zwischen den Vorhängen zu erkennen, das hastig zurückwich, aber einen Moment lang den Blick freigab auf ein Zimmer, das so hell erleuchtet war, dass ein grelles Blitzen nach draußen drang. Gonal war also zu Hause.
Kyle lief über die Steinplatten zurück in den Vorgarten und hielt das Handy hoch. »Ich muss mit Ihnen reden!« Die Vorhänge blieben geschlossen. Kyle wartete und wartete, bis er keine Hoffnung mehr hatte. Dann bückte er sich, schloss die Augen und atmete resigniert aus.
»Hau ab!«, plärrte eine verzerrte Stimme aus der Sprechanlage. Kyle ging wieder zur Eingangstür und ließ den Rucksack auf den grünlichen Zementboden fallen. »Mr. Gonal, ich muss unbedingt mit Ihnen sprechen. Mein Name ist Kyle Freeman. Ich versuche schon den ganzen Tag, Sie anzurufen. Ich weiß, es klingt idiotisch, aber es geht vielleicht um Leben und Tod.«
»Interessiert mich nicht. Hau hab!«
Von West Hampstead nach New Cross war es ein weiter Weg gewesen. Vor seinen Augen verschwamm alles. Jetzt reichte es. Er drückte den Klingelknopf. »Es ist wichtig!« Du betrügerisches Arschloch . »Sie müssen mir zuhören!«
»Wenn ich wegen so einem dilettantischen Wichser, wie du einer bist, runterkommen muss, dann kannst du den Rückweg auf dem Behindertensitz im Bus antreten, Arschloch!«
»Ha! Ich lach mich tot, Malcolm. Ich piss dir die Fußmatte voll vor Lachen!«
Der kleine Lautsprecher der Klingelanlage dröhnte so laut, dass er beinahe zersprang. »Ich kenn Leute hier in der Gegend. Kapiert? Man kennt mich. Und ich kenne Headcase Stratham! Schon mal von ihm gehört? Der wird dir bald einen Besuch abstatten. Ich weiß nämlich, wo du wohnst, du Arschloch. In West Hampstead, richtig? Goldhurst Terrace, stimmt’s? Du wirst bestimmt mehr als nur angepisst sein, wenn dir die Tür eingetreten wird!«
Unglücklicherweise hatte Kyle schon mal von Headcase Stratham gehört, einem berüchtigten Gangster aus dem East End, der in Bandenkriege und Foltergeschichten verwickelt war. Man erzählte sich, dass er seinen Opfern die Nase abbiss. Einmal wurde er bei einem illegalen Boxkampf verhaftet und hatte noch Stücke von der Nase seines Rivalen im Mund. War offenbar zu scharf darauf gewesen, den nächsten Kampf zu sehen, um sich den Mund auszuspülen. Ein Mann, der aus irgendwelchen Gründen nicht lebenslänglich bekommen hatte. Wie war so etwas überhaupt möglich? Kyle hatte seinen breiten, narbigen Schädel auf dem Umschlag von
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