Der letzte Tag: Roman (German Edition)
jetzt genug von diesem ganzen Mist!« Die Menschen um sie herum blieben stehen, starrten Kyle an und gingen dann weiter. Kyle ging sein Nummernverzeichnis im Handy durch und wählte die Nummer von Gabriels Wohnung. Eine automatische Ansage bat ihn, eine Nachricht zu hinterlassen. Das tat er: »Wir müssen uns treffen. Es ist dringend. Rufen Sie mich an …«
Dan war verunsichert. Weil er ihm in Seattle nicht geglaubt hatte. War mehr als skeptisch, weigerte sich, das Offensichtliche zu sehen, hatte sogar Mitleid mit ihm gehabt, als er erfuhr, dass Kyle sich stundenlang unter den Pappkartons zwischen dem Cola-Automaten und der Eismaschine versteckt hatte. Er hatte
ihn ungläubig und schockiert angestarrt und ihn kaum wiedererkannt, als er ihn draußen vor ihren Zimmern stehen sah, kaum bekleidet, ohne Schuhe und zitternd wie ein psychopathischer Drogensüchtiger.
In Dans Augen war deutlich zu lesen gewesen, dass er insgeheim den Verdacht der Motel-Angestellten teilte, für die klar war, dass er selbst sein Zimmer zerstört und das hässliche Bild auf die Tür gemalt hatte. Dan hatte nervös und missbilligend geschwiegen, als Kyle seine Geschichte mehrfach wiederholte. Kyle sah darin eine Bestätigung dafür, dass Dan inzwischen der Überzeugung war, Kyle habe all die eigenartigen Vorkommnisse während der Filmaufnahmen gefälscht: den Arm im Wandschrank seiner Küche, die Erscheinungen in der Scheune in der Normandie, die er angeblich bemerkt hatte, als Dan damit beschäftigt war, Gabriels Fuß aus der Falle zu befreien, und auch die rätselhafte Gestalt im Penthouse in der Clarendon Road – einfach alles. Glaubte Dan etwa, er wäre so verzweifelt hinter dem Geld her, dass er all diese paranormalen Erscheinungen fingierte? So wie Gonal es einmal sehr effektvoll betrieben hatte? Oder war Kyle inzwischen schon so müde und paranoid, dass er seinem besten Freund alles Mögliche unterstellte? Wahrscheinlich. Dan war in der glücklichen Situation, nicht gejagt zu werden. Skeptizismus ist das Privileg derjenigen, die nicht betroffen sind.
Im Motel war es Dan gelungen, den Angestellten davon abzuhalten, die Polizei zu rufen, indem er blitzschnell Max’ Kreditkarte ins Spiel brachte, um für die Reparatur der Tür, die zerstörte Bettwäsche und den durchgebrannten Sicherungskasten aufzukommen. Letzterer hatte die Stromversorgung des gesamten Motelblocks unterbrochen. Kyle kam es vor, als wäre dieses Ereignis in einem anderen Leben passiert. Inzwischen lagen ja auch ein ganzer Ozean und viele Stunden quälender Gedanken dazwischen.
Aber als sie im Mietwagen gesessen hatten, hatte Dan Kyles
Schulter gepackt und ihm von ganz nah in die Augen geschaut. »Alter! Jetzt verarsch mich bitte nicht. Hast du mich verstanden? Ich weiß, dass das alles ziemlich durchgeknallt und irre ist, aber ich will da raus. Ich komm damit nicht klar. Nimmst du Drogen, oder was ist mit dir los?«
Beide waren verstimmt und völlig enttäuscht voneinander, auch wenn sie versuchten, es nicht zu zeigen, und sie flogen schweigend zurück nach London.
Kyle machte sich auf den Weg zur Victoria Station mit der Adresse im Kopf, die er auf Malcolm Gonals Visitenkarte gelesen hatte. Er hatte das Gefühl, er würde sich durch Meereswogen hindurcharbeiten. Seine Haut brannte, er war außer Atem, seine Beine wollten ihm nicht gehorchen. Abgesehen von den irrationalen Dingen, die er inzwischen hinnahm, vielleicht sogar ein wenig verstand, war er völlig aus dem Gleichgewicht geraten, weil er total erschöpft war und an akutem Schlafmangel litt. Er musste möglichst bald irgendwo schlafen. An einem sicheren Ort. Aber wo?
Er merkte, dass er endlos lange auf die Karte mit den U-Bahn-Linien starrte. Außerdem stellte er fest, dass das Umsteigen von der District Line in die Jubilee Line und dann in die Dicklands Light Railways wie üblich extrem schwierig war, weil es auf beiden Linien Betriebsstörungen gab. Also gab er es auf, riss sich zusammen und schleppte seinen schweren Rucksack aus dem Untergrund nach oben. Wenig später stand er draußen vor der U-Bahn-Station zitternd im Regen und winkte nach einem Taxi.
Malcolm Gonal schien nicht zu Hause zu sein. Vielleicht hatte er das Land verlassen und versteckte sich irgendwo. Wer konnte ihm das übel nehmen? Frustriert drückte Kyle mit der flachen Hand auf sämtliche Klingeln zugleich.
Gonal wohnte im dritten Stock eines alten viktorianischen Hauses. Im Eingang und im Vorgarten türmten sich von
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