Der letzte Tag: Roman (German Edition)
nach verdorbenem Schweinefleisch ging von ihm aus.
London
23. Juni 2011, 16 Uhr
Malcolm Gonal ging nicht ans Telefon. An der Ausweiskontrolle, neben dem Gepäckfließband und während sie auf den Zug von Gatwick in die Stadt warteten, hinterließ Kyle ihm Nachrichten. Es schien ewig zu dauern, bis sie den Flughafen endlich hinter sich gelassen hatten. Die grellen Lichter, die endlosen Ansagen, die vielen Gesichter und lauten Stimmen der ungeduldigen Menschenmenge – all das strengte ihn derartig an, dass er am liebsten laut geschrien hätte.
Er war sich nicht sicher, ob er am Telefon irgendwas halbwegs Sinnvolles von sich gegeben hatte. Hektisch und atemlos hatte er kurz von Max, dem Tempel der Letzten Tage und seiner Rolle als Regisseur gesprochen, so hastig, dass es wahrscheinlich völlig unverständlich war. Seine Stimme klang eigenartig: heiser vor Anspannung, schwankend vor Verwirrung. Er war so durcheinander, dass er sein Anliegen nicht klar äußern konnte. Zu schnelle Gedanken, eine taube Zunge, lahme Kiefernmuskeln – das war keine gute Mixtur. Wer total erschöpft ist, sollte sich besser hinlegen.
Es kam kein Rückruf.
»Nix zu machen?«, fragte Dan.
Kyle schüttelte den Kopf. Das war das erste Mal, dass sein
Freund wieder versuchte, mit ihm zu kommunizieren, nachdem sie sich in Seattle gestritten hatten. Auf dem Flug nach Hause hatte Dan fast die ganze Zeit laut schnarchend geschlafen, während Kyle neben ihm auf dem Sitz unruhig herumgerutscht war und einen Nikotin-Kaugummi nach dem anderen gekaut hatte – genervt, ratlos und gequält.
Im Flugzeug fühlte er sich sicherer, weil er sich weigerte zu glauben, dass die »alten Freunde« von Schwester Katherine hier auftauchen konnten. Aber er wusste auch, dass dieses kurze Gefühl von Sicherheit nach der Landung sofort vorbei sein würde. Außerdem bewahrte es ihn nicht vor dem ständigen Rekapitulieren des Geschehens der letzten Nacht. Alles lief immer wieder vor seinem inneren Auge ab. Und abgesehen davon konnte er nicht aufhören, darüber nachzugrübeln, in was für einen Albtraum diese Produktion sich verwandelt hatte. Ständig tauchten die altbekannten Bilder in seinem Kopf auf: zerfledderte Fragmente ihrer Erlebnisse in der Normandie; knochige Fratzen, die ihn durch Wände hindurch angrinsten; das grelle Licht der Wüste von Arizona; das schlaffe Gesicht des alten Detective, der von irgendwelchen Mustern bei Blutspritzern faselte; die graue Leblosigkeit des Hauses in Seattle und Martha Lakes nikotingelbes Gesicht; die dünnen Hände an den Wänden ihres Dachbodens, die nach der Welt grabschten. Hinzu kam der morbide Glaube an seine eigene bevorstehende Zerstörung.
Und immer wieder wechselten seine Gedanken unvermittelt die Richtung, und das endlose innere Streitgespräch darüber, ob das alles überhaupt möglich sein konnte, machte ihn noch nervöser, als er ohnehin schon war. Die anderen Passagiere drehten sich schon zu ihm herum, weil er vor sich hinbrabbelte wie ein Irrer. Aber das war er ja auch. Am liebsten wäre er im Gang des Flugzeugs auf und ab gegangen und hätte seinen gequälten Kopf in den Händen vergraben. Alles, was seine Angst, seinen Unglauben, seine Wut und seine Panik dämpfen konnte, war ihm recht.
»Ruf ihn ein andermal an. Du solltest …« Dan sprach nicht zu Ende, brauchte er gar nicht. Kyle wusste ja, was er vorschlagen wollte: Geh nach Hause, und ruh dich aus, schlaf ein paar Tage, vergiss den Film für eine Weile, am besten für immer, und dann wirst du schon wieder zu klarem Verstand kommen. Aber er konnte nicht mehr riskieren einzuschlafen.
»Ich werde einfach hingehen.«
»Nach New Cross? Wann? Jetzt?«
Kyle nickte. Ist ja nicht dein Problem, wollte er schon sagen. Du hast doch die letzte Nacht geschlafen. Und acht Stunden im Flugzeug. Durch deine Zimmertür ist doch nichts eingedrungen, keine unmögliche Erscheinung hat dich gequält und dein Bett zerfetzt!
Kyle versuchte es erneut bei Max. Wieder nur der Anrufbeantworter. »Scheiße!«
Dan schüttelte den Kopf. »Wenn ich die Dateien morgen zu Finger Mouse bringe, ist das dann für Max in Ordnung?«
»Nein. Bring sie gleich hin. Sieh zu, dass er eine weitere Nachtschicht macht. Wir bezahlen ihn dafür. Ich muss mir das alles noch mal ansehen. Scheiß auf Max! Ich will das alles so schnell wie möglich. Gabriel müsste doch jetzt auch wieder zurück sein. Mit ihm muss ich noch mal sprechen. Er weiß was, das wir noch nicht wissen! Ich hab
Weitere Kostenlose Bücher