Der letzte Tag: Roman (German Edition)
mich in diese Geschichte reingezogen. Und Sie glauben allen Ernstes, dass ich noch weiter für Sie arbeite? Sie sind genauso. Wie sie. Wie Katherine. Sie sind aus dem gleichen Holz geschnitzt.«
Max verzog das Gesicht. »Sagen Sie das nie wieder! Nie!«
»Wo ist denn der Unterschied? Sie benutzen Menschen. Als wären wir zu nichts anderem gut. Sie interessieren sich nur für sich selbst.«
Max kniff die Augen zusammen. Sein Lächeln war nur noch eine Grimasse. »Mein lieber Kyle. Sie haben hier die Gelegenheit bekommen, Wunder zu erleben. Und Sie können darüber eine
wirklich erstaunliche Dokumentation drehen. Ich habe Ihnen eine Arbeit verschafft, die Ihrem Leben einen Sinn gibt. Alle großen Unternehmungen bergen Risiken, oder? Sie haben doch gesehen, was da noch immer in der Clarendon Road haust. Sie hätten dieses Filmprojekt abbrechen können, bevor Sie sich auf den Weg in die Normandie gemacht haben. Die meisten hätten das getan, niemand hätte Sie deswegen getadelt. Aber Sie haben das nicht gemacht. Sie sind sogar nach Amerika geflogen, nach allem, was Sie in der Fermette von diesem Miststück gesehen haben. Ich bin wirklich sehr beeindruckt von Ihnen, Kyle. Und ich gehe jede Wette ein, dass Sie Dan ganz schön zureden mussten, um ihn zum Mitkommen zu bewegen.«
»Sie sind ein Arschloch.«
»Und vielleicht sind die Schrecken der Letzten Tage ja immer noch erträglicher als eine weitere Nachtschicht in diesem Lagerhaus.«
»Woher wissen Sie denn davon …«
»Ich habe Ihre Gebete erhört, Kyle. Ihre finanzielle Situation ist erbärmlich, habe ich gehört. Sie werden für den Rest Ihres Lebens Hochzeiten filmen und für ein paar Pfund Kurzfilme machen. Und das Einzige, was ich getan habe, war, Ihnen eine Chance zu geben, das zu ändern. Damit Sie nicht einer von diesen nur auf YouTube publizierten Möchtegern-Künstlern sind. Sie waren total im Arsch, und ich habe Ihnen auf die Beine geholfen, Kyle.«
»Ich gehe jetzt.« Kyle drehte sich um und ging zur Tür.
»Kyle!«
Kyle griff nach dem Türknauf.
»Ich weiß, was Sie jetzt denken, Kyle: Ich habe das Geld und genug Filmmaterial. Also muss ich einfach nur losrennen und so lange rennen, bis das alles weit hinter mir liegt. Aber es gibt Orte, an denen Geld keinen Wert hat. Das Königreich der Narren , wie es Verhulst gemalt hat. Also, entweder Sie überlassen alles mir und hoffen darauf, dass es mir gelingt, sie zu besiegen. Oder Sie laufen
davon. Aber wenn es mir nicht gelingen sollte, dann werden Sie einfach nur darauf warten, von ihnen eines Nachts im Dunkeln geholt zu werden, genau wie wir.«
Kyle drehte den Knauf.
»Bitte! Ich brauche Sie!«
Kyle hielt inne.
»Schauen Sie sich das Triptychon an. Dann werden Sie es verstehen. Alles verstehen. Das verspreche ich Ihnen.«
Kyle zog die Tür auf und ging hinaus.
»Kyle! Warten Sie! Bitte! Bitte. Die Geschichte. Ich muss Ihnen noch diese Geschichte erzählen. Sie sind doch dafür gemacht. Es liegt Ihnen im Blut.«
Und in diesem Moment merkte er, dass er gar nicht weglaufen wollte. Und er hasste sich dafür. Wie in einem Film, der schnell vorgespult wird, sah er die handelnden Personen vor sich: Susan White, Gabriel, Conway, Sweeney, Emilio, Martha Lake. Material, das er in drei Ländern gedreht hatte. Der grauenhafte Charakter dieses Rätsels, das sich vor seinen Augen darbot und entwirrte, zog ihn in seinen Bann. Er wusste jetzt, dass er sein ganzes Leben lang darüber nachgrübeln würde, was dort in der Wüste von Arizona wirklich passiert war. Er würde nie mehr richtig schlafen können. Und bei jedem Wasserfleck an der Wand würde er zusammenzucken, bei jedem Geräusch in einem Stockwerk über ihm erschrecken. Seine Gedanken und seine Träume, vielleicht sogar sein Körper, würden immer wieder an diese Orte gezogen werden, um nachzuschauen, zu forschen, zu ergründen, was da vor sich ging. Er würde die Wahrheit nicht ertragen. Aber er würde es auch nicht ertragen, im Ungewissen zu bleiben. Wie oft im Leben bot sich einem Filmemacher eine solche Gelegenheit? Dies war seine große Chance, endlich der zu werden, der er tatsächlich war. Jeder, der je an ihm gezweifelt oder seine Arbeit verspottet hatte, würde sehen, worauf es ihm ankam. Dies war sein Lebenswerk. Vielleicht sogar das Ende des Lebens. Er holte tief
Luft. »Und falls, ich sage ausdrücklich falls ich dorthin gehe, um mir dieses Bild anzusehen – falls ich überhaupt noch so lange leben werde –, dann begreife ich alles?
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