Der letzte Tag: Roman (German Edition)
gingen. Aber sie ließen auch immer etwas hier. Mitunter eigenartige Dinge. Antwerpen zieht manches an. Seltsame Objekte. Als würde die Stadt einer Sammelleidenschaft nachgehen.« Er schaute Kyle über seine Brillenränder hinweg an und lächelte. »Sie dachten bestimmt, es sei bloß eine Industriestadt. Oder ein Hafen mit nichts als Docks und Kränen.«
Kyle erwiderte sein Lächeln.
»Nein, Antwerpen selbst ist Geschichte. Es birgt so viel Vergangenes in seinen Mauern, dass man kaum alles erkunden und ergründen kann. Kaum hat man etwas entdeckt, verändert es sich auch schon wieder. Diese Stadt ist ein Kunstwerk. Deshalb ist Niclaes Verhulst auch hierhergekommen.«
»Wissen Sie Bescheid über den Film, den ich gerade drehe?«
»Ja. Max hat mich darüber unterrichtet. Ich werde ihn mir irgendwann bestimmt ansehen.«
»Aber wissen Sie auch von diesen Dingen, die wir gesehen haben?«
»Max hat mir einiges von dem beschrieben, was wir erwartet hatten, ja.«
»Erwartet?« Kyle nahm einen Schluck von seinem Bier. »Und wer ist ›wir‹?«
Pieter lächelte. »Die Herrschaften, meine aktuellen Arbeitgeber. Eine alte Familie, die sich darum gekümmert hat, dass einige bemerkenswerte Dinge nicht in die falschen Hände geraten. Das, was ich Ihnen zeigen werde, wollte Katherine einmal kaufen. Wussten Sie das? Nein? Sie war nicht die Erste und wird auch nicht die Letzte gewesen sein.«
»Sie machen mich immer neugieriger, Pieter. Ich frage mich, wie das alles zu der Geschichte passt, über die ich gerade einen Film drehe.«
Pieter sah zu, wie er einen weiteren großen Schluck trank. Das Bier war süß wie Wein und erfrischend wie ein kaltes Pils. »Langsam. Das Bier ist ziemlich stark. Es steigt Ihnen schnell zu Kopf.«
»Umso besser.«
Pieter klappte ein elegantes Zigarettenetui auf, nahm eine Zigarette heraus und bot Kyle eine an. »Sie haben viele eigenartige Dinge beobachtet.« Es war eine Feststellung, keine Frage. Pieter gab ihnen beiden Feuer. »Alle, die sich auf die Suche nach den ›alten Freunden‹ machen, fördern Dinge zutage, die sie lieber
nicht gesehen hätten.« Er ließ diesen Gedanken im Raum stehen. Und blickte mit einer kaum merklichen Kopfbewegung an sich herunter. »So wie Niclaes Verhulst. Er konnte Dinge sehen. Vieles davon hätte er lieber nie erblickt. Aber er hat sie gemalt. Hier. Nachdem er einem Ort in Frankreich entkommen war, den Sie, glaube ich, ganz gut kennen.«
Kyle sah ihn fragend an. »Dieser Hof in der Normandie?«
»Mehr oder weniger. Damals war es ein ganzes Städtchen. Das war 1566.«
Kyle wischte sich einen Tropfen Bier vom Kinn. »1566?«
»Ja. Schwester Katherine und ihre Anhänger entstanden eigentlich aus einer ganz anderen Sache.«
Die Unermesslichkeit der Vergangenheit, die beeindruckende Architektur des alten Marktplatzes und die langen kalten Schatten der geschwärzten Mauern der gigantischen Kathedrale drängten sich Kyle so sehr auf, dass er erschauerte.
Pieter stieß langsam den Zigarettenrauch aus und schaute zu, wie er davonwaberte. »Viele Menschen kommen hierher, um die Werke von Rubens oder Brueghel oder anderen anzusehen. Aber ich glaube, Niclaes Verhulst ist der Aufregendste von allen. Er hat zum Beispiel ›Die Heiligen des Schmutzes‹ gemalt. Ein Bild, das die Touristen nie zu Gesicht bekommen. Ich würde gern sagen, Sie könnten sich glücklich schätzen, dass ich Ihnen ein lange vergessenes Meisterwerk zeige. Aber so einfach ist das nicht. Denn die Tatsache, dass Sie es sehen, bedeutet, dass Sie in die Sache hineingezogen werden. Und das ist kein angenehmes Privileg.«
»Wer war denn dieser Verhulst?«
Pieter wandte sich wieder seinem Gesprächspartner zu. »Er ist nicht der Grund für Ihren Besuch. Wie Sie war er ein Berichterstatter. Er hat bestimmte Dinge festgehalten. Der Mann, von dem wir sprechen sollten, ist Konrad Lorche. Ein Deutscher aus Köln.« Pieter sah die Spitze seiner Zigarette an, nickte vor sich hin und fuhr leise, fast murmelnd fort.
»Lorche war ein Buchdrucker mit hochfliegenden Ideen, der schließlich Dramatiker wurde. Allerdings kein erfolgreicher. Später war er umherziehender Schauspieler. Und es heißt, er sei sehr charismatisch gewesen. Konnte Menschen überzeugen. Er war sehr gebildet. Hat sogar die Universität besucht. Seine Eltern hatten ein kleines Vermögen, jedenfalls eine gewisse Zeit. Und wie viele andere Gesinnungstäter erklärte Lorche sich nach der Reformation zu einem Propheten. Behauptete, er habe
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