Der letzte Tag: Roman (German Edition)
er nur angerufen, weil er eine weitere mysteriöse Erscheinung auf den Filmaufnahmen entdeckt hatte.
»Sind Sie zum ersten Mal in Antwerpen?«, brach Pieter das Schweigen.
Kyle folgte Pieter durch den Bahnhof hinaus auf die De Keyserlei Straße. Pieter wirkte in seinen teuren Lederschuhen und dem dreiteiligen Maßanzug wie ein Tänzer in einem alten Hollywood-Streifen. Er schien sich in seiner Rolle als Führer zu gefallen und bahnte sich zielstrebig den Weg durch den Strom der Fußgänger und Fahrradfahrer und zwischen den Trambahnen hindurch. Der Anblick des Gewusels um sie herum machte Kyle bewusst, dass sein Gehirn kaum noch in der Lage war, all diese Informationen zu verarbeiten. Er fragte sich, ob es sich womöglich irgendwann demnächst wegen Überlastung abschaltete.
»Das haben Sie nicht erwartet, oder?« Pieter lächelte und beugte sich beim Sprechen leicht vor. Sofort fühlte Kyle sich privilegiert, als würde jemand seine Meinung für wichtig erachten, als sei er gekommen, um seinen Rat in einer wichtigen Angelegenheit
zu geben. Pieter strahlte eine gewisse Würde aus, die seinen Gesprächspartner dazu brachte, aufmerksam zuzuhören. Kyle hätte ihn sehr gern gefilmt, die ganze Szene festgehalten, die interessante Stadt. Antwerpen war gar nicht so, wie er gedacht hatte. Keine Kopie einer heruntergekommenen britischen Großstadt aus den Siebzigerjahren, im Gegenteil. Wieso hatte er dieses Vorurteil gehabt? Er wusste doch überhaupt nichts über dieses Land.
Pieter führte Kyle zu einem Taxistand. »Es wäre ein schöner Tag für einen Spaziergang, aber wir dürfen die Zeit nicht außer Acht lassen. Sie werden noch heute zurückfliegen, also haben wir nur wenige Stunden, in denen wir hoffen können, etwas zu sehen.«
»Mein Flieger geht um sechs.«
Pieter nickte, und als sie schließlich im Taxi saßen, sagte er: »Ich möchte Ihnen etwas über diese Stadt sagen. Ich habe einen Freund. Er ist auch Engländer. Und er handelt mit Kunst. Er lebt hier seit zwei Jahren, und jede Woche erzählt er mir, er habe beim Spazierengehen schon wieder einen neuen Platz entdeckt. Er ist der Ansicht, dass diese Stadt zur einen Hälfte märchenhaft, zur anderen Hälfte ein Albtraum aus einer klassischen Gruselgeschichte ist. Ich wünschte, ich könnte die Stadt noch mit solchen Augen betrachten«, fügte er wehmütig hinzu. Durch das Seitenfenster des Taxis konnte Kyle sehen, was Pieter meinte. Im morgendlichen Sonnenlicht und unter einem blauen Himmel war hier all das zu sehen, was er an kontinentaleuropäischen Großstädten so liebte: Alles war gleichzeitig schick und schäbig, verschnörkelt und düster, geheimnisvoll und verlockend. »Wir kommen jetzt in die Altstadt. Ich kenne ein Lokal, in dem sie Tripel Karmeliet ausschenken. Es ist das beste Bier der Welt. Ihr Engländer mögt doch Bier.«
Kyle nickte.
»Es wird Ihnen guttun.«
»Ist es wirklich so schlimm?«
Pieter senkte die Stimme, sodass der Fahrer ihn nicht verstehen konnte, und beugte sich zu Kyle. Er roch nach Zigarrenrauch, Knoblauch und Mundwasser. »Nur jemand, der über bestimmte Dinge Bescheid weiß, kann diese Arbeiten verstehen. Man muss das Bedeutsame hinter der grotesken Darstellung suchen, um diese … Bilder und Symbole in den Werken zu verstehen. Aus sich selbst heraus. Andernfalls sind wir einfach nur erschrocken und kapieren überhaupt nichts.«
Sie setzten sich an einen Holztisch vor einer Bar am Grote Markt im Schatten der Liebfrauenkathedrale. Ringsherum standen prächtige Gildehäuser und das beeindruckende spätgotische Rathaus. Straßen mit Kopfsteinpflaster führten von dem breiten Platz in ein Labyrinth mittelalterlicher Straßen mit schattigen Winkeln, dunklen Fenstern, Balkonen mit eisernen Geländern, von Efeu überwucherten Fassaden, Erkern, Türmchen und bunten Fahnen. Die Kathedrale reckte sich hoch in den Himmel, während die Stadt zu ihren Füßen mit ihren Gassen und Plätzen und den vielen Kaffeehäusern eine zauberhafte Kulisse darbot. Kyle war aufgeregt und schwelgte innerlich in großartigen Panoramabildern. Es war wunderschön hier, aber auch Respekt einflößend.
Pieter nahm einen großen Schluck von seinem golden schimmernden Bier, das in einem Glas in Form einer Vase serviert wurde. Er deutete mit dem Kopf zum Marktplatz. »Seit die Friesen sich hier angesiedelt haben, sind viele Völker gekommen. Die Franken, die Römer, die Wikinger, die Spanier, Napoleon, die Holländer, die Deutschen. Alle kamen und
Weitere Kostenlose Bücher