Der letzte Tag: Roman (German Edition)
Wohnzimmer so zerstört sein. Beide Sessel und das Sofa waren zerfetzt worden. Die Schaumstofffüllung quoll überall heraus. Das ungespülte Geschirr war vom Couchtisch gefegt worden, zusammen mit Gläsern, Chipspackungen und der TV-Fernbedienung. Die Kameraausrüstung war mit den ganzen anderen Gerätschaften aus den Tragetaschen gekippt und überall verstreut worden. So wie es aussah, war es sinnlos nachzuschauen, ob noch etwas heile war. Kyle rannte aus dem Zimmer und stolperte in die Küche. Dort blieb er abrupt stehen.
Der Geruch sprang ihm geradezu ins Gesicht, noch bevor er den Schmutzfleck sah. Modriges Abwasser, feuchte Asche, Aas. Ein altbekannter, unheimlicher Geruch, der inzwischen zu seinem Alltag gehörte.
Es war durch die Decke gekommen. Direkt über dem kleinen
Frühstückstisch. Darauf war es gefallen und hatte sich scharrend den weiteren Weg gebahnt. Hatte eine Flüssigkeit über den Linoleumboden gespritzt. Die Zimmerdecke war einmal weiß gewesen, jetzt hatte sie die Farbe von uraltem vergilbtem Elfenbein, als wäre der Zigarettenrauch von Dan und Raoul und allen vorherigen Bewohnern der Wohnung dort oben konzentriert worden. Aber dieser eklige Gelbton wirkte noch sauber im Vergleich mit dem öligen Schmierfilm, der sich im Durchmesser von 1,20 Meter darin ausbreitete. Im Zentrum befand sich ein schwarzer Fleck, und von dort breiteten sich feuchte Adern zu den Rändern aus. Das Ganze sah ungefähr so aus und roch auch so, als hätte man den ganzen Dreck aus Dans Toilette mitten in die Küche gespült. Kyle suchte und fand dann auch die Knochen. Für seine geübten Augen sah der Abdruck aus wie ein verzerrtes Röntgenbild einer fleischlosen Hand, eines Schulterblatts und des Unterkiefers eines Esels mit unnatürlich langen Zähnen, das nach einem Nuklearblitz als monströses Abbild auf dem Putz zurückgeblieben war.
Deshalb hatte Malcolm Gonal seine Decke mit alten Zeitungen tapeziert. Gonal. Er hielt sie sich mit Tageslichtsimulatoren und Autobatterien vom Leib, aber wie lange noch? Dan hatte sich geweigert zu glauben, dass es sie wirklich gab. Die »alten Freunde«. Er war völlig unvorbereitet gewesen. Wahrscheinlich war er eingeschlafen, während aus den Kopfhörern seines iPod Alice in Chains dröhnte, und dann waren die Märtyrer des Neuen Jerusalem direkt über seinem Toaster durch die Küchendecke gekommen. Wahrscheinlich war das Licht aus gewesen. Das Ding hatte ihn in der Dunkelheit überfallen, während er schlief.
»Oh, scheiße. Oh, Dan.« Kyle trat einen Schritt zurück. Erschrocken hielt er sich eine Hand vor den Mund, als er einen »Himmlischen Brief« auf einer Untertasse liegen sah. Es war wahrscheinlich der letzte saubere Teller in Dans Küche gewesen.
Der Teller stand dort ganz für sich. Brottüten, Olivenpaste und die Marmite-Dose waren zur Seite geschoben worden. Dan hatte
offenbar gerade was gegessen, als er es fand … Aber wo? Bei sich selbst oder in der Ausrüstung, als er sie im Wohnzimmer auspackte? So hatte es auch bei Gonal angefangen – mit einem Objekt, das plötzlich bei ihm aufgetaucht war. Malcolm hatte von einem Knochen, einem schwarzen Knochen gesprochen, den er in seiner Ausrüstung gefunden hatte, als er aus den Staaten zurückkam. Und Dan war es genauso ergangen. Offenbar hatten sie ein Beweisstück mitgebracht, ohne es zu wissen. Sie waren alle schon längst auf dem Weg ins »Königreich der Narren«, so wie es die »Heiligen des Schmutzes« vorhergesagt hatten. Niemand blieb verschont.
»Oh, Mann, Dan.«
Dan hatte Zähne gefunden. Längliche Zähne. Krone und Wurzel. Schwarz wie Kohle und zerbrochen wie das Fundstück einer archäologischen Ausgrabung. Eine Handvoll Zähne, die wie Samen aus der Hand des Sensemanns gefallen waren.
Draußen auf der Straße, die von den Straßenlaternen und gelegentlich vorbeihuschenden Autoscheinwerfern nur teilweise in ein schmutziges Licht getaucht wurde wie ein schlecht belichtetes Foto, hatte er das Gefühl, dass seine geistige Verunsicherung sich auf seinen Körper übertrug. Allzu deutlich spürte er, wie seine Kräfte ihn verließen, er sackte in sich zusammen wie ein Ballon, dem die Luft entwich. In seinem Schädel schien sich etwas zu lösen. Ein Teil seiner Gedanken brach ständig ab, nur Einzelteile blieben übrig und schienen bedeutungslos in seinem Bewusstsein herumzuliegen. Die nackte Angst zerrte an seinen Eingeweiden, sein Gehirn war verseucht davon und schien sich zusammenzuballen wie eine
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