Der letzte Tag: Roman (German Edition)
ihn fast sprachlos und orientierungslos machte, benutzte sowieso keine Türen im konventionellen Sinn.
Auf allen Stockwerken waren die in eigenartigen Farben gestrichenen Wohnungstüren aus Stahl und hatten Spione. Hier wohnten viele verängstigte alte Leute, die zu arm waren, um woanders hinzuziehen. Zu den Wohnungen gelangte man über offene Gänge, an deren Balustraden vergessene Blumenkästen mit verdorrten Pflanzen hingen. Kyle erreichte den vierten Stock diesmal, ohne der Nervensäge mit Bomberjacke, laufender Nase und pomadigen Haaren zu begegnen. Der Typ wohnte praktisch im Treppenhaus. Wenn er nicht da war, dann stimmte hier etwas nicht.
Kyle zog den Schlüsselbund aus seiner Tasche. Da sie sich ständig gegenseitig Filmausrüstung ausliehen, besaß jeder auch den Wohnungsschlüssel des anderen. Das Schloss war nicht doppelt verriegelt, Dan hatte also einfach nur die Tür hinter sich zugezogen, als er weggegangen war. Das war ungewöhnlich, denn bei Dan war schon zweimal eingebrochen worden. Dabei waren alle Motörhead-CDs und die Werner-Herzog-Filmbox verschwunden, die Kyle seinem Freund geliehen hatte, außerdem zwei Kameras und alle sonstigen Geräte mit Stromanschluss. »He, Dan!«, rief Kyle leise in die Dunkelheit der Wohnung, nachdem er die Tür einen Spaltbreit aufgeschoben hatte. Es roch nach Müll, der längere Zeit nicht weggebracht worden war, nach altem Teppich und der Farbe, die in Sozialbauten immer verwendet wurde. Niemand war zu Hause.
Kyle tastete die Wand im Inneren der Wohnung ab und suchte den Lichtschalter. Er fand ihn und drückte drauf. Sofort war der Wohnungsflur von gelblichem Licht erfüllt. Das war ein gutes Zeichen. Kyle trat ein. Schob sich um das abgestellte Fahrrad herum und schloss die Tür hinter sich. Er horchte angestrengt und stand so unter Strom, dass er wahrscheinlich schon beim Geräusch eines tropfenden Wasserhahns die Flucht ergriffen hätte. Er ging den Flur entlang zur Tür von Dans Zimmer, das sich hinten rechts befand.
»Scheiße. Oh, scheiße.«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis seine zitternden Augen sich beruhigt hatten. Dan war so unordentlich, dass es schon pathologisch war. Kyle wusste das, weil er während ihrer Studienzeit zwei Jahre lang mit ihm zusammengewohnt hatte. Aber zu dem erwarteten unglaublichen Durcheinander aus ungewaschenen Klamotten, Zeitschriften, ungespülten Tellern und dem durchdringenden, männlichen Geruch eines schlampigen Chaoten kamen noch Bruchstücke von wertvollen Dingen hinzu, die über diesem ganzen Durcheinander verteilt waren.
Die Zerstörung der Star-Wars-Sammlung dürfte von ihrem Besitzer zweifellos noch heftiger beweint werden als die Zerstörung der Bibliothek von Alexandria. Aber der Millennium Falcon hatte seine letzte Reise hinter sich und taugte jetzt nur noch für die Müllkippe. Die limitierte Sonderausgabe des AT-AT war von etwas getroffen worden, das die Allianz der Rebellen niemals in ihrem Waffenarsenal gehabt hatte. Jedes Sammlerstück, jeder Bausatz und jedes kostbare Modell war von den Regalen heruntergefegt, manches sogar mit Brachialgewalt gegen die fahlen Wände geschleudert worden.
Klonekrieger und Jedi-Ritter knirschten unter Kyles Sohlen, als er vorsichtig den Raum betrat, um den Schaden eingehender zu betrachten. Der TV-Flachbildschirm war zerschlagen. Die Stereoanlage demoliert. Das Bett war ausgeweidet. Sogar
die Federn der Matratze lagen bloß. Es sah aus wie sein Bett in Seattle, nur noch viel schlimmer. Eine größere und womöglich viel länger andauernde Zerstörungswut hatte sich hier ausgetobt.
Hatte Dan im Bett gelegen? Kyle hockte sich in die Überreste einer TIE-Fighter-Weltraumkampfstation und fing an zu zittern.
Kein Blut.
Das war immerhin ein Hoffnungsschimmer, wenn auch ein ziemlich bescheidener. Aber warum hatte Dan sich in den letzten Stunden nicht gemeldet? In seiner letzten Nachricht hatte er erklärt, er hätte etwas gefunden.
Kyle stand wieder auf und rannte den Flur entlang. Raouls Zimmer war abgeschlossen, was immer der Fall war, wenn er sich im Ausland befand. Im Badezimmer sah es aus, als wäre eine Autobombe hochgegangen, aber das konnte auch einfach nur ein Resultat von Dans nicht vorhandenem Ordnungssinn sein: Handtücher auf dem Boden, Toilettenpapierrollen lagen überall herum, es roch nach verstopften Rohren, und um den Abfluss in der Dusche war ein breiter, bräunlicher Ring zu sehen.
Aber nicht mal nach zehn Jahren Benutzung durch seinen Freund konnte das
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