Der letzte Tag: Roman (German Edition)
auf sein Gesicht.
Er musste da reingehen. Die Arbeit musste getan werden. Er musste eine neue Gliederung für den Schnitt ausarbeiten. Und ein paar zusätzliche Aufnahmen machen: Die letzten Bilder für den Rohschnitt einer Dokumentation, deren Erstaufführung er wahrscheinlich nicht mehr erleben würde. Aber der Film würde garantiert im Fernsehen laufen und auch in dem großen Kinosaal seiner Generation: dem unregulierten Marktplatz der kreischenden Narzissten, dem Wilden Westen der Desinformation und des Betrugs, dem endlosen Meer des Piratentums, dem gigantischen Plenum, bestehend aus Milliarden Menschen, die ihre Meinung per Mausklick äußern. Dem Internet. Es hatte Regierungen gestürzt und die Geschichte neu geschrieben. Dort wäre sein Film gut aufgehoben.
Und wenn es das Letzte war, was er täte, und seine letzte Kraft aufbrauchte, er würde eine Version des Films ins Internet stellen. Mit letzter Energie würde er ein Postskriptum filmen, den groben Aufbau des Films entwerfen, die Video-Tagebuch-Aufzeichnungen einbauen und dann alles Finger Mouse geben. Der sollte den Film zusammenschneiden, hochladen und mit einem Trailer zum richtigen Zeitpunkt ins Netz stellen, und zwar in seiner Abwesenheit. Damit hätte er postum eine Premiere auf allen wichtigen Kanälen.
Er ging nicht mehr nach Camden zurück, um nach Dan zu
sehen oder die Polizei zu alarmieren. In dem Moment, als er aus Max’ Haus auf die Straße getreten war, wurde ihm klar, dass beides völlig zwecklos wäre.
Max hat beinahe ein Ohr verloren. Kyle hielt inne. Wie hatte Max dieses Ding bekämpft, wie war er ihm entkommen? Zu dumm, dass er sich nicht die Zeit genommen hatte, ihn danach zu fragen. Max war ein alter Mann. Er war so einem Ding hilflos ausgeliefert, wenn es mit weit aufgerissenen gierigen Augen aus der Wand seines Schlafzimmers drang. Vielleicht hatte Max ja Iris als Köder oder Lockvogel benutzt und sie geopfert, um sich selbst zu retten. Das würde ich ihm glatt zutrauen. Das, was Max ihm gerade erzählt hatte, war eigentlich unmöglich, genau wie die ganze Geschichte vom Tempel der Letzten Tage. Trotzdem hatte Kyle mit den Arbeiten an dem Film nicht aufhören können, hatte verzweifelt weitergemacht. Sein bester Freund war dabei ums Leben gekommen, woran er zweifellos mitschuldig war, genauso wie an seinem eigenen elenden Zustand, der wahrscheinlich auch nicht mehr besonders lange andauerte.
Er sah wieder hinauf zu seinen Fenstern und schluckte. Die Leitungen in den Wänden waren aus Kupferdraht, dünn wie Bindfäden und plastikummantelt. Besonders widerstandsfähig waren sie nicht. Und womit konnte er sich wehren? Er ging alle seine Gerätschaften durch. Ein Hammer! In der Werkzeugkiste lag ein Hammer. Er würde ihn sich in den Gürtel stecken wie ein Schwert. Der Gedanke daran machte ihm ein wenig Mut, aber dann fiel ihm die Szene in dem Motelzimmer in Seattle wieder ein, und er sah wieder dieses Ding vor sich, wie es sein Bett zerfetzte, darin herumwühlte mit langen knochigen Klauen … Blutvergiftung, teilweise von Ratten angenagt, ausgeblutet.
»Oh, scheiße, bitte nicht.« Kyle wurde so schlecht, dass er sich in dem mit kaputten Steinplatten und Müllsäcken übersäten Vorgarten auf eine Mauer setzte. Das, was er sein Bewusstsein oder seine Seele nannte, würde ihm bald schon gestohlen werden, aus
ihm herausgesaugt oder ausgetauscht, irgendwann heute Nacht. Das war grotesk. Aber das hast du nun davon .
Sollte er zu Hause anrufen? Mit seinen Eltern sprechen? Mit seinen Brüdern? Er schaute auf die Uhr. Nicht um diese Zeit. Sie würden sich schreckliche Sorgen machen. Beinahe hätte er laut aufgelacht. Bloß nicht darüber nachdenken . Seine Familie würde sich seinen letzten Film online ansehen müssen, genau wie alle anderen. Auch die Polizei und die Angehörigen von Dan. Würde die Polizei den Film als Beweismittel konfiszieren? Hoffentlich nicht. Das Publikum sollte sehen, wie sie in ihr Verderben rannten, sollte ihr Meisterwerk des Guerilla-Filmens betrachten dürfen, damit es sich seine eigene Meinung bilden konnte über die Ereignisse von 1975 in Arizona. Sein Traum war wahr geworden. Tränen traten ihm in die Augen, aber nicht die des Triumphes.
»Scheiß drauf, Alter.« Er lächelte vor sich hin und zog die Nase hoch. Wie oft hatte er das in all den Jahren zu Dan gesagt? Er wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus den Augen. Dann ging er ins Haus.
Die Lampen in seiner Wohnung strahlten grell. Jede
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