Der letzte Tiger
echt nicht zu reden. Fluchend verließ er den Raum.
*
Es war absurd. Da hatten sie bei der Umweltpolizei Experten für den Tierhandel, und dann war er es, der den Job machen musste. Ausgerechnet er, der gerade selbst Tigerknochenpaste hatte kaufen wollen. Er, der nicht die mindeste Ahnung von diesem Geschäft hatte.
Er dachte kurz darüber nach, Hai Au um Informationen zu bitten. Der Gastwirt der Lotusbar hatte den Ruf, in allen möglichen illegalen Geschäften seine Finger im Spiel zu haben. Ab und an trank Ly ein Bier bei ihm. Er und Hai Au standen zwar auf unterschiedlichen Seiten des Gesetzes, waren sich aber nicht vollends unsympathisch. Ly war sich sicher, Hai Au wusste, wie der Tierhandel strukturiert war. Er erinnerte sich nur zu gut an seinen ersten Besuch in der Lotusbar. Ein Krokodil, das er in dem schummrigen Licht nicht gesehen hatte, hatte ihn mit seinem kräftigen Schwanz am Unterschenkel getroffen. Ly hatte kaum gewagt zu atmen, bis er sah, dass dem Tier mit Klebeband das Maul verschlossen war.
Jetzt, wo Ly darüber nachdachte, war er sich allerdings nicht sicher, ob es überhaupt verboten war, Krokodilfleisch zu verkaufen. Die Tiere, die in den Schnapsflaschen auf dem Tresen der Lotusbar eingelegt waren, standen aber auf jeden Fall unter Schutz: Seepferdchen,Schuppentier, Königskobra … Trotzdem, er konnte Hai Au nicht fragen. Nicht schon wieder. Er hatte ihn in letzter Zeit zu oft um Informationen und um Hilfe gebeten. Er wollte sein Schuldenkonto bei ihm nicht noch weiter aufladen.
Statt in die Lotusbar fuhr Ly in die Trieu-Viet-Vuong mit ihren vielen Bars und Restaurants und parkte vor dem Quan Ruou No. 1. Kleine Drachenfiguren zierten den Dachgiebel des alten Stadthauses. Ly drückte die hölzerne Schwingtür auf und trat ein. Eine diffuse Geräuschkulisse schlug ihm entgegen. Es roch nach Zigarettenrauch und Hochprozentigem. Als Lys Augen sich an das fahle Licht im Raum gewöhnt hatten, sah er, dass in der Raummitte ein einziger langer Tisch aufgestellt war, an dem ein gutes Dutzend Männer saß. Höhere Funktionäre, dachte Ly. Er konnte nicht sagen, woran genau er das festmachte. Er sah es ihnen einfach an. Vielleicht war es die Überheblichkeit, die sie ausstrahlten, oder die feisten Gesichter mit den heruntergezogenen Mundwinkeln. Sie mussten schon eine ganze Weile zusammengesessen haben. Der Boden um ihre Stühle war übersät mit abgenagten Knochen.
»… mehr Bier … und von den Tigergarnelen … und Chili«, brüllte einer der Gäste. Sein Gesicht hatte vom Alkohol eine violette Färbung angenommen. »Und ’nen Waran. Den größten.«
Die Männer grölten. Sie waren alle stark angetrunken. Die Kontrolle über ihre Stimmen hatten sie längst verloren.
Ly stellte sich an den Tresen, auf dem mehrere bauchige Schnapsflaschen mit eingelegten Schlangen standen. Quynh, der Gastwirt, ein kleiner runder Mann mit freundlichemGesicht, den Ly schon seit Jahren kannte, kam aus der Küche und klopfte ihm im Vorbeigehen auf die Schulter. Auf Quynhs Arm saß eine große dunkel gefleckte Echse, die er den Männern an dem langen Tisch zeigte. Auf das Nicken eines der Männer hin zückte Quynh ein Messer, und innerhalb von Sekunden war das Tier tot, kleine Gläser mit Blut gefüllt und mit Schnaps aufgegossen. Eine junge Kellnerin mit kurzem engem Rock und hohen Pumps trug das ausgeblutete Tier in die Küche.
Quynh trat zu Ly an den Tresen. »Du warst lange nicht da«, sagte er, griff zwei Tiger -Bier aus dem Kühlschrank hinter dem Tresen und reichte Ly eine Flasche. »Wie geht’s Thuy und den Kindern?«
»Gut. Huong macht sich langsam selbständig. Ich sehe sie kaum noch.«
»Komisches Gefühl, oder? Mein Sohn will in Australien studieren. Von wegen die Ältesten bleiben zu Hause und kümmern sich um die Eltern.«
»Tja, die Zeiten ändern sich«, sagte Ly und stöhnte über seine eigenen Worte auf. Was für einen trivialen Spruch hatte er denn da von sich gegeben! Er trank sein Bier und beobachtete die Männer. Quynh verschwand in der Küche und tauchte kurz darauf mit einer Schale selbstgemachter Kartoffelchips wieder auf.
»Wo ist dein Bär hin?«, fragte Ly. Als er die letzten Male hier gewesen war, hatte im Gastraum ein mannshohes Glasgefäß mit einem in Schnaps eingelegten Kragenbären gestanden. Der Körper des Bären war so mit Drähten fixiert gewesen, dass er aufrecht stand. Sobald von dem Bärenschnaps geordert worden war, hatte Quynh immer sofort Schnaps nachgeschüttet,
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